Montag, 11. Januar 2016

11. Januar 2016 - Geschichten - Kurzgeschichte: "Geschützt" - 3. und letzter Teil

Kurzgeschichte
von
Silvia Gehrmann


Geschützt

Seit elf Jahren hatte niemand sie Nicole genannt.

Und in der Schnelligkeit von Bruchteilen von Sekunden fühlte sie sich plötzlich ungeschützt, während zugleich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung durch ihren Kopf jagte wie ein Ungeheuer, das nach ihr griff: Es dauerte also elf Jahre, bevor der Zufall zuschlug? Noch einmal elf Jahre - und Daniel käme längst ohne sie zurecht. So lange musste sie ihn noch schützen.

Doch wie sollte sie auf Harry und Paula nun reagieren? Sie waren die Eltern von Rolf, die zwar nichts mit einen höchst kriminellen Geschichten zu tun hatten - aber zumindest früher trotzdem immer auf seiner Seite gestanden hatten. Und vor allem hatten sie einen Enkel, den man ihnen vorenthalten hatte.

Flucht war die erste Option, schnell weg laufen - dann alles auf den nächsten Weg bringen. Aber wie versteinert blieb sie zunächst stehen. Paula sah sie giftig an: "Ich habe es geahnt, dass ich dich irgendwann wieder sehe ... es wird Rolf freuen, dass er nun seinen Sohn wieder sehen kann."

Das klang nicht nur ironisch, sondern auch bitterböse. Rolf? War er nicht mehr im Gefängnis? Warum nur konnten er und seine Komplizen nicht allesamt verrecken, damit sie endlich ohne Angst leben konnte?

Hoffentlich war er doch noch im Gefängnis, dann konnten seine Eltern ihn nicht unverzüglich anrufen ...

Nun ergriff sie doch noch die Flucht, lief und lief und lief ... bis zum Strand. So schnell wie sie würden diese alten Leute nicht sein.

Nach ein paar Telefongesprächen wurde alles rasch und professionell geregelt. Die Schwestern bekamen Order, niemanden zu ihrem Sohn zu lassen - obwohl Nicole natürlich gar nicht wissen konnte, dass Harry und Paula seinen Unfall verursacht hatten und ihn besuchen wollten. So konnte sie auch nicht wissen, dass sie ihm dadurch vielleicht das Leben gerettet hatten - denn so war seine schwere Krankheit sehr früh diagnostiziert worden.

Zwei Stunden später wurde Daniel mit einem Hubschrauber in ein weit entferntes Krankenhaus geflogen. Nicole fuhr mit dem Zug schon voraus. Zeit, ein paar Sachen zu packen, hatte sie aus Sicherheitsgründen nicht mehr.

Am nächsten Tag ging sie den schweren Gang zu ihrem kranken Kind. Einerseits war der Gang schwer, weil ihr Kind noch lange krank sein würde - und andererseits musste sie ihm nun endlich alles erzählen. All das, wovor sie ihn schützen wollte - musste nun ausgesprochen werden.

Er wartete bereits auf eine Erklärung, warum man ihn Hals über Kopf in ein anderes Krankenhaus verlegt hatte. Sie setzte sich an sein Bett und nahm seine Hand.

"Du heißt eigentlich Moritz", begann sie, "und die elf Jahre, als du Daniel geheißen hast, sind vorbei. Du heißt nun Robin. Und ich nicht mehr Constanze, obwohl mein richtiger Vorname Nicole ist - sondern Maike."

Und sie erzählte von den Verbrechen seines Vaters - und von ihrer Zeugenaussage vor Gericht, die maßgeblich zu seiner langen Verurteilung geführt hatte. Und sie erzählte, dass sie ins Zeugenschutz-Programm aufgenommen worden waren - um den von richterlicher und polizeilicher Seite attestierten sicheren Verfolgungen durch seinen Vater und deren Komplizen zu entgehen.

Daniel - Moritz - Robin hörte sich die ganze lange Geschichte an, und langsam begriff er, dass er nun zwar Gewissheit hatte, was in seinem Leben nicht rund gelaufen war - aber zusätzlich die Erkenntnis bekam, dass er alles zurück lassen musste, was ihn an sein Leben auf der Insel band. Die Schulfreunde - und auch Pete.

Tränen flossen, und seine Mutter nahm ihn fest in die Arme: "Wir haben immer noch uns - und zwischen uns gibt es nun keine Lügen mehr, keine falschen Geschichten - und jetzt ist es nur noch wichtig, dass du wieder gesund wirst."

Ende

Copyright Silvia Gehrmann


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