Samstag, 9. Januar 2016

9. Januar 2016 - Geschichten - Kurzgeschichte "Geschützt" - Teil 2


Kurzgeschichte
von Silvia Gehrmann

Teil 2


Geschützt

Erst viele Stunden später erwachte Daniel in der Klinik und hatte ein Gefühl, als wäre er eine Zeitreise lang in Watte gepackt gewesen. Er empfand nur einen leichten Kopfschmerz, und sah schnell, dass sein linker Arm in Gips war. Auf einer Kante seines Bettes saß Constanze, seine Mutter. Ihr Gesicht war so besorgt wie er es von anderen, nicht so schlimmen Ereignissen, die ihn betrafen, kannte.

"Alles wird gut", sagte sie mit ruhiger Stimme, "du hast nur einen Arm gebrochen und eine Gehirnerschütterung."

Im ersten Moment erinnerte er sich nicht, was überhaupt passiert war - aber dann fiel ihm sein Fahrrad ein. Wie es dem wohl gehen mochte? Immerhin war es sehr teuer gewesen, und seine Mutter verdiente nicht viel als Podologin. Aber vielleicht sollte er einfach mal glücklich darüber sein, dass ihm selber nichts Gravierendes zugestoßen war.

Leider ging der erste Tag in der Klinik nicht so glimpflich zu Ende wie er es gekonnt hätte, wenn es nur bei dem Unfall geblieben wäre ...

Inzwischen wurden der Unfallverursacher Harry und seine Frau Paula von der Polizei vernommen. Sie hatten selber einen Enkel in dem Alter des geschädigten Kindes und konnten sich nicht darüber beruhigen, was sie angerichtet hatten. Paula gab sich die Schuld, weil sie während der Fahrt in einer Auseinandersetzung mit Harry nicht nachgeben wollte.

Und Harry gab sich natürlich die Schuld, weil er unaufmerksam und der wirklich Schuldige an diesem Unfall war.

Der Polizeibeamte fühlte sich eher als Seelentröster denn als Vernehmer in einer Unfallsache, in der ein Junge zu Schaden gekommen war. Immer diese Touristen, dachte er, man braucht sie, aber mag man sie auch?

Paula wollte unverzüglich das Kind im Krankenhaus besuchen, während Harry sich lieber noch eine Weile in einem so tief wie möglichen Untergrund verkrochen hätte - er war fast siebzig Jahre alt, und sein Führerschein stand auf dem Spiel. Er wollte, er wäre nie diese Allee entlang gefahren.

Unterdessen kam im Insel-Hospital eine Ärztin mit einem betroffenen Gesichtsausdruck in Daniels Zimmer. Sie sah den Jungen an, dann seine Mutter, und verfluchte nicht zum ersten Mal ihren Beruf. Gut, bei alten oder älteren Menschen ... konnte sie damit leben. Aber wenn es einen so jungen Menschen betraf, fühlte sie sich nicht umfassend genug durch ihr Studium darauf vorbereitet ... Hiobsbotschaften zu überbringen.

Schon mehrfach wurde Daniel an diesem Tag Blut entnommen, um differential-diagnostisch sicher gehen zu können. Das Ergebnis lag jetzt vor.

"Der Unfall ist in ein paar Wochen vergessen", begann sie, "leider hat sich durch die Blutuntersuchungen eine akute myeloische Leukämie herausgestellt, Daniel." Sie sah den Jungen an. Sie sah die Mutter an.

Daniel riss seine Augen weit auf, denn dieses Wort sagte ihm etwas. Er war immerhin sechzehn Jahre alt - und in seiner Klasse gab es Bestrebungen, sich typisieren zu lassen. Einige hatten dies bereits getan, er selber noch nicht. In seinem Alter brauchte man dazu die Einwilligung der Eltern.

Constanze wurde abwechselnd blass und rot, weil es ihr plötzlich heiß und kalt zugleich wurde.

Ihr Leben war kompliziert genug, sie hatte viel durchgemacht - von all dem wusste ihr Sohn nichts. Nicht zuletzt seinetwegen hatte sie alles auf eine Karte gesetzt - und jetzt wollte ihr das Schicksal, das verdammte, ihr vielleicht das Kind nehmen. Ihren einzigen Ankerpunkt, ihre einzige Freude.

Die Ärztin hatte ruhig und besonnen gesprochen und erklärte die künftige Therapie. Am Ende sollte es, wenn alles gut lief, auf eine Knochenmark-Spende hinaus laufen.

Danach ließ sie Mutter und Sohn allein zurück. Es gab mehr als nur Gesprächsbedarf zwischen beiden. Sie hoffte auf die Stärke der Mutter.

"Das schaffen wir", sagte Daniel zu seiner Mutter. Und ließ sich in die Watte seiner Schmerzmittel fallen, die man ihm verabreicht hatte.

Eine oder zwei Stunden später, sie erinnerte sich anschließend nicht mehr so genau, verließ Constanze das Krankenzimmer ihres Sohnes.

Mit gesenktem Kopf ging sie über den langen Flur. Sie sah das ältere Ehepaar Harry und Paula zunächst nicht, das ihr entgegen kam.

Doch dann standen sie plötzlich voreinander.

Harry, der noch um seinen Führerschein bangte - und Paula, die Angst um den Jungen hatte, den er angefahren hatte, sahen in Constanzes Augen.

Constanze ihrerseits fühlte ihren Herzschlag beinahe aussetzen, als Paula leise, aber überrascht

"Nicole" sagte, "Nicole ... was machst du hier?"


Fortsetzung folgt

Copyright Silvia Gehrmann








2 Kommentare:

  1. Ich habe die gesamte Kurzgeschichte gern gelesen.
    Aber:
    Schade, daß bei diesen vielen Namen für so wenige
    Protagonisten versehentlich auch noch eine
    'Catherine' mitmischen wollte.

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    1. Oh sorry, das war ein Fehler, der mir nicht aufgefallen ist. Danke, ich korrigiere das dann mal.

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