Freitag, 8. Januar 2016

8. Januar 2016 - Geschichten - "Geschützt" 1. Teil



Kurzgeschichte von

Silvia Gehrmann

1. Teil


Geschützt

Manchmal sah Daniel seine rothaarige Mutter an, und es kam es ihm vor, als sei etwas falsch. Es passierte nicht oft, dass er so dachte, aber hin und wieder und in letzter Zeit häufiger. Doch dann kam ihm die Erkenntnis um so klarer: War sie nicht mal heller gewesen? War sie nicht mal fröhlicher gewesen?

Daniel war nun sechzehn Jahre alt, ein bisschen der Gefangene seiner Pubertät - aber mehr noch seiner Gedanken, die immer wieder versuchten, Dinge zu erinnern, die er nicht mehr erinnerte. Was war, als er drei oder vier Jahre alt war? Er träumte immer wieder den gleichen oder ähnlichen Traum: Jemand riss an seinen Armen, und dieser Jemand war ein fremder Mann. Und undeutlich erkannte er, dass er ihn als kleinen Jungen einer blonden Frau entriss.

Dann fiel er tief in einen Abgrund - und erwachte meistens schweißgebadet.

Gern hätte er mit seiner Mutter Constanze darüber geredet, aber sie erschien ihm manchmal nicht nur bedrohlich rothaarig, sondern auch verschlossen wie die Austern, die sein Freund, der Fischer Pete, aus seinen Wassern holte und dann an die Restaurants und Geschäfte der Insel verkaufte.

Pete war sein einziger Vertrauter. Er war schon alt, und das nicht nur in der Relation zu seinem eigenen Alter. Aber er hatte Verständnis und Aufmerksamkeit für ihn gehabt, seit er denken konnte.

Wann war das gewesen? Wann hatte er Pete kennen gelernt? Er erinnerte auch dies nicht.

Manchmal schlenderten Daniel und Pete durchs Watt und der alte Mann erklärte ihm nicht nur das Meer und seine Besonderheiten, sondern auch die Welt. Würde Pete ihm auch erklären können, was ihn tief im Innern und seit einiger Zeit verstärkt quälte?

Abenteuerliche Geschichten kreisten in Daniels Kopf: Er war gar nicht das Kind seiner Mutter, sondern adoptiert. Aber er sah ihr ähnlich. Konnte das nicht auch ein Zufall sein? Und er war trotzdem nicht ihr Kind? Und hatten nicht viele Kinder diese Vermutung - hin und wieder?

Auch von seinem Vater, der verstorben war, erzählte sie freimütig und ohne Aufforderung. Daniel hätte ein Buch über seinen Vater schreiben können, aber niemand mochte vermutlich Bücher über so charakterstarke Leute wie ihn kaufen. Irgendwie waren die auch langweilig. Patrick hatte sein Vater geheißen, und so stand es auch in Daniels Geburtsurkunde. Es musste folglich stimmen.

Constanze sprach gern über seinen Vater. Und seinen Fragen nach ihm wich sie niemals aus. Das jedenfalls war sein Eindruck.

Er lungerte mal wieder in Petes Schuppen herum, in dem dieser sich nebenher noch als Holzschnitzer betätigte. Für die Touristen schnitzte er Seemans-Figuren, und in der Saison verkauften sie sich recht gut. Es war sein zweites Standbein neben der Austernzucht.

Daniel beobachtete den Freund mit dem großen Altersunterschied, und er verspürte plötzlich eine riesige Angst, ihn lange vor der Zeit zu verlieren, die er für angemessen hielt: In etwa wollte er ihm noch seine eigenen Enkel vorstellen.

"Na, Jung", bemerkte Pete, "was möchtest du heute unternehmen?"

"Ich möchte etwas wissen", antwortete Daniel.

"Nur zu", Petes Stimme war rauchig von den vielen Zigaretten, die er stets qualmte, und vielleicht auch vom Whisky, vermutete Daniel, aber in seiner Gegenwart trank der Freund nie Alkohol.

"Ich erinnere mich nicht mehr, seit wann wir uns kennen", sagte Daniel, "wie alt war ich da."

Pete unterbrach seine Arbeit und setzte sich neben ihn.

"Du warst fünf Jahre alt, als deine Mutter auf die Insel kam", antwortete er, "ich habe sie hier im Hafen kennen gelernt, du gingst an ihrer Hand - und ihr wart ein so hübscher Anblick. Da habe ich euch angesprochen."

Mit fünf Jahren war er also auf diese Insel in der Nordsee gekommen. War es nicht so, dass man, ausgehend von diesem Alter, sich später noch an das eine oder andere erinnern würde?

Es würde nichts nützen, Pete danach zu fragen, wo er in seinen vorherigen fünf Lebensjahren gelebt hatte. Seine Mutter hatte ihm darüber nichts verschwiegen. Und Pete konnte nicht mehr wissen als sie.

Und dennoch erinnerte er sich an gar nichts, worüber sie ihm erzählt hatte und noch hin und wieder erzählte.

Warum konnten diese Gedanken nicht endlich aus seinem Kopf verschwinden, dass irgendetwas in seinem Leben nicht rund sein könnte?

Daniel schnappte sich sein Fahrrad und sagte Pete ein gedehntes Tschüss, bevor er sich auf den Heimweg machte.

Er fuhr am Meer entlang und bog dann auf eine Allee ab.

Im selben Moment, als er sich den Schwur abnahm, endlich Ruhe in sein Innerstes einkehren zu lassen, und selber auf die glorreiche Idee kam, dass alles nur ein pubertärer Unsinn voller Einbildungskraft war

wurde er mit einer Wucht, die er gerade noch heftig spürte, von einem Auto erfasst - und verlor das Bewusstsein.


Fortsetzung folgt.


Copyright Silvia Gehrmann







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