Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
6. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
Mary
Beinahe hätte ich laut losgelacht, als die Hotelbesitzer uns begrüßten. Woher hatten sie nur diese Klamotten? Hatten sie einst bei der Versteigerung von Prinzessin Dianas Gewändern mitgeboten und mangels genügend Kapital einen Trostpreis gewonnen? Auch ihr Alter ließ sich schwer einschätzen. Sie waren nicht wie ich in den 1940er Jahren geboren, soviel schien mir sicher, aber jung waren sie auch nicht, wenn auch das genau so eine Täuschung sein konnte
wie dieser gesamte Heiligabend. Wir waren doch nicht wirklich in einer anderen Welt gelandet anstatt simpel und direkt mit einem ICE nach München zu fahren?
Mein Neffe wartete dort auf mich, er und seine Familie waren seit Jahren so lieb, mich über die Weihnachtsfeiertage einzuladen. Ob es mehr ein familiäres Pflichtprogramm war, wusste ich nie wirklich einzuordnen. Aber ich ging, stets positiv denkend, einfach davon aus, dass er und seine Frau und auch seine drei Kinder mich einfach mochten. Immerhin konnte er nicht auf ein Erbe meinerseits spekulieren. Ich hatte mein Auskommen, aber ganz sicher nichts zu vererben.
Es hatte folglich auch Vorteile, nicht reich zu sein, vor allem den der Ehrlichkeit vieler anderer Menschen einem selbst gegenüber. Zwar konnte hinter der Freundlichkeit meines Neffen immer noch ein anderes Motiv stecken, aber Geldgier war es auf keinen Fall. Vielleicht erinnerte ich ihn an seine verstorbene Mutter, meine Schwester. Das wäre dann ein schönes Motiv. Vielleicht lud er mich auch ein, weil seine Mutter es sich so gewünscht hätte. Auch dann wäre als Motiv für mich akzeptabel. Insgesamt jedoch machte ich mir keinen Kopf darüber, denn ich mochte ihn sehr gerne, auch darum, weil er das einzige Kind meiner Schwester war.
Heute machte ich mir eher einen Kopf darüber, was die Deutsche Bahn uns beschert hatte und vielleicht noch bescheren wollte. Aber ja, Bescherung war ja für diesen Tag legitim, und ich versuchte, mir auch darüber keine allzu vielen Gedanken zu machen. Es war ein niedlicher Ort, der allerdings voller Mystik steckte. Die vielen Nippes-Gegenstände, die voll-bebilderten Wände, diese Hotel-Inhaber als Sahnetupfen auf all dem ... es wirkte insgesamt wie ein kleines Himmelreich.
Da es inmitten einer manchmal harten Welt plötzlich passierte, dass etwas passierte, das einen zurück führte in eine Zeit, die noch nicht mal mir von früher vertraut war - entschied ich mich ganz schnell, die Zeit hier zu genießen.
Direkt vom hochmodernen ICE in dieses Hotel - das war trotzdem ein Quantensprung.
Ronny und Lisa sahen in der Tat wie aus der Jetzt-Zeit in eine unbekannte Epoche zurückgefallen. Aber sie empfingen die unverhofften Gäste, als hätten sie an diesem Heiligabend nichts Besseres zu tun, als ein paar mit der Deutschen Bahn Gestrandete aufzunehmen und womöglich für entgangene Reisefreuden zu entschädigen. An der Rezeption übergaben sie die Schlüssel für drei Einzel- und ein Doppelzimmer. Harry und Markus mussten sich als Angestellte der Bahn ein Zimmer teilen, während Lotte, Klaas und Mary je ein Einzelzimmer beziehen konnten.
Ronny bat seine Gäste, sich nach dem Abstellen des Gepäcks im Gemeinschaftsraum einzufinden. Niemand sollte an diesem Tag allein sein, war der Gedanke dahinter ... und die Gäste sahen zumindest einem nicht wirklich einsamem Heiligen Abend entgegen.
Lotte verstaute ihr Gepäck in dem sogenannten "Rosenzimmer" - eine Wucht bunter Rosen strapazierte den Blick auf die Tapeten ringsherum. Jede Menge Nippes in Rosenform vollendete diese Scheußlichkeit, die sie allerdings zum Lachen brachte:
Ich werde es als Strafe hinnehmen, weil ich mir gewünscht habe, diesem Fest bei meinen Schwiegereltern zu entfliehen, dachte Lotte.
Klaas' Zimmer war nach dem Motto "Gedanken" eingerichtet. Hier bestand die gesamte Wandverkleidung aus einer Tapete mit sinnvollen und sinnlosen Sprüchen. Er fand außerdem ein paar philosophische Bücher in dem Raum vor, der überdies von Konterfeien diverser Denker und Dichter strotzte. Ein Gruselkabinett könnte nicht schlimmer sein.
Copyright Silvia Gehrmann
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen