Aus der Sicht einer weißen Hochzeitstaube
Mein Heiligabend
Seit geraumer Zeit spüre ich, dass etwas mit den Menschen nicht mehr stimmt. Es gibt weniger achtlos weggeworfene Lebensmittel, die wir Tauben in unserer Not aufpicken könnten. Kaum zu glauben, dass die Leute nun sorgsamer mit ihrer Umwelt umgehen und aus Fehlern gelernt haben. Nein, haben sie vermutlich nicht, denn es flattert bereits die nächste Plastiktüte durch die Lüfte und die nächste weggeworfene Maske (eine noch ziemlich neue Bedrohung), die für uns gefährlich werden können.
Aber irgendetwas stimmt nicht. Es gehen weniger Leute durch die Stadt, was allerdings in keiner Weise störend ist: meine Schwarm-Freunde und ich müssen nicht mehr so vielen Tritten ausweichen wie sonst.
Wie ich hörte, beklagen sich Menschen darüber, dass ihr Weihnachtsfest in diesem Jahr recht einsam für sie werden könnte. Hätte ich Lust, Worte des Trostes zu finden, würde ich sagen,
dass sich für mich und meine Schwarm-Kollegen nicht einmal zu Weihnachten etwas zum Besseren wendet. Eher im Gegenteil. Heiligabend und Weihnachten müssen wir um jeden Picker noch mehr als sonst kämpfen. Da bleibt keine Zeit für feierliche Gedanken.
Der 24. Dezember ist für uns ein Tag wie jeder andere, und niemand aus meinem Schwarm weiß, ob er ihn überhaupt überlebt. Vielleicht ist der Schwarm und der Zusammenhalt überhaupt unser einziger Vorteil gegenüber den Menschen, die beinahe an Kleinigkeiten verzweifeln und sich gegenseitig anfeinden.
Darf ich hoffen, dass es an Silvester nicht ganz so laut wird? Darf ich hoffen, dass wir nicht mitten in der Neujahrs-Nacht aus einem Schlaf nach einem harten Tag geschreckt werden, vielleicht sogar von Böllern getroffen werden?
Ich habe die Hoffnung jedoch schon vor langer Zeit still und leise verzweifelt aufgegeben. Meine Gedanken kreisen darum, mich am Leben zu erhalten. Manchmal frage ich mich durchaus, was dieses Leben wert ist, das nur daraus besteht, dass man seinen Hunger stillen muss, der trotzdem allgegenwärtig bleibt.
Viele von uns Hochzeitstauben, blauen oder grauen oder auch manchmal schwarzen Tauben haben dieses Jahr nicht überlebt, weil sie einfach zu wenig Futter gefunden haben. In den meisten Kommunen ist es sogar verboten,
uns zu füttern.
Kein Mitleid mit den Ratten der Lüfte - heißt das Diktat aus den Rathäusern.
Die in ihren gut gepolsterten Stühlen haben gut reden. Die haben nicht einmal eine Ahnung davon, was Hunger bedeutet.
Dennoch gibt es immer mitfühlende Menschen, die uns täglich mit Körnern versorgen. Wir sind nämlich allesamt Veganer, also ist es nicht besonders teuer, uns zu ernähren.
Doch auch im kommenden Jahr wird es viele Todesfälle aus unseren Reihen geben. Aber keine Sorge, wir belästigen euch Menschen nicht mit unserem Sterben. Dafür ziehen wir uns in die Einsamkeit zurück.
Wie lautete noch einmal mein Titel? Ach ja, er lautet: Mein Heiligabend.
Ich fürchte, dieser und die nächsten Tage werden für uns noch härter werden als alle anderen in 2020, denn die Leute sind zwar an den Weihnachts-Tagen nicht ordentlicher als an allen anderen, aber viel weniger unterwegs.
Wer mir und meinem Schwarm und allen anderen Schwärmen durch die Zeit helfen möchte, kann gerne Reiskörner, Sonnenblumenkerne und Winterstreufutter (bitte keine Haferflocken, obwohl wir in der Not natürlich alles aufpicken)
klammheimlich aus seiner Tasche rieseln lassen. Wir werden es euch mit einem Gurren danken.
Eure weiße Hochzeitstaube,
einen Namen habe ich nicht, ich hatte nur eine fragwürdige Funktion ...
Ich opfere jeden Tag meine Mittagspause für das argerechte Füttern dieser wunderschönen Tauben. Die bösen Blicke einiger Menschen und der Aussage 'Man darf Tauben nicht füttern. Ich rufe die Polizei' schüchtern mich nicht ein. Weihnachtszeit... auch hier war ich mit Futter unterwegs. Jetzt muss ich los, sie warten auf mich. Auf diesem Wege suche ich Menschen, die das nötige Mitgefühl haben, eine kleine Gruppe zu bilden für das Füttern der Tauben in verschiedenen Bezirke und das Mithelfen kranker Tauben. Wenn Interesse besteht, bitte melden: dulcesari2@hotmail.com
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