Das Hotel im Schneesturm
Lotte
Der Zug stand still. Ihm im Wege lagen zwei Bäume. Beinahe hätte ich laut losgelacht. Würden Rosalinde und Paul dies als Entschuldigung im Sinne höherer Gewalt akzeptieren? Könnte ich so den Besuch bei ihnen umschiffen? Lieber würde ich die ganze Nacht hier verbringen, als mit ihnen gemeinsam eines dieser sentimentalen Erinnerungs-Weihnachten zu "feiern".
Klaas
Meine Zwillinge waren die große Liebe meines Lebens, und von dieser Seite aus betrachtet, hatte sich mein Betrug irgendwie gelohnt. Aber ich sah sie viel zu selten, denn
Ariane war mit ihnen und ihrem neuen Mann weit weg gezogen. Und jetzt das! Der Zug hatte eine Art Unfall, und wir kamen wegen dem Schneesturm vermutlich weder vor noch zurück. Wertvolle Stunden mit meinen Kindern würden mir verloren gehen.
Allgemein kam eine gewisse Unruhe im Zug auf, denn ein Feststecken irgendwo im Nirgendwo brauchte niemand an Heiligabend. Harry, der Zugbegleiter, musste hier und dort ein paar Passagiere beruhigen, die schon das Schlimmste kommen sahen: Eine Heilige Nacht in einem Zug der Deutschen Bahn.
Das konnte ja heiter werden! Oder auch eines der misslungensten Heiligabende überhaupt!
Harry selber war so etwas völlig gleichgültig, weil auf ihn ohnehin niemand wartete. Er machte seinen Job, und ansonsten war dies ein Tag wie jeder andere im Jahr. Allerdings taten ihm einige der Leute recht leid, denn sie schienen wirklich gern an ihren Zielorten ankommen zu wollen. Darum konnte er sie nur beneiden, ohne dass es ihn neidisch machte. Vielleicht würde auch er irgendwann einen Menschen finden, mit dem er Weihnachten und alle anderen Tage verbringen konnte - aber er glaubte nicht recht daran. Ein Einsiedler wie er, der sich außerdienstlich kaum je unter Menschen mischte, war eben nicht leicht in seiner Einsamkeit zu entdecken, die ihn wie ein Schneckenhaus umgab - und im Beruf achteten die wenigsten Leute auf ihn.
Nach einer Stunde stand der Zug noch immer an derselben Stelle. Aber es kam ein bisschen Hoffnung auf: Die Leitstelle meldete, dass sie die genaue Passagier-Anzahl benötige ... und würde danach versuchen, Hilfe zu schicken.
Harry zählte insgesamt 65 Fahrgäste, inklusive der Zug-Besatzung. Er gab die Personen-Zahl durch und musste dann genau wie alle anderen auf eine Lösung warten.
Draußen tobte inzwischen ein recht heftiger Schneesturm. Vor lauter Flocken sah man eigentlich gar nichts mehr. Wenigstens zu Weihnachten passte das Wetter, wenn schon nicht in die Pläne der Reisenden und der Deutschen Bahn.
Nach zwei weiteren Stunden wurde von der Leitstelle an Harry durchgegeben, dass so etwas wie eine Zwischenlösung in Sicht war. Nach vorheriger weiterer Rücksprache musste Harry noch in Erfahrung bringen, welche Zug-Gäste zusammen gehörten ... und welche allein unterwegs waren.
Einem findigen Kollegen der Bahn war es gelungen, in der Nähe in verschiedenen Hotels und Pensionen entsprechend viele Zimmer zu reservieren.
Der Bus für die Fahrgäste und Lokführer samt Zugbegleiter kam nach fast vier Stunden, und die Passagiere mussten vom Zug in den Bus umsteigen.
Copyright Silvia Gehrmann (wie alle Blog-Beiträge)
Fortsetzung folgt
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