Dienstag, 1. Dezember 2020

1. Dezember 2020 - Adventskalender 2020: 1. Türchen: Das Hotel im Schneesturm

 

Foto: I. M.-S.


1. Türchen 2020

Das Hotel im Schneesturm


Der Zug fuhr langsam in den Hauptbahnhof Köln ein. Es war der 24. Dezember, und der Wetterbericht ließ nicht auf weiße Weihnachten hoffen, sondern auf eine ungemütliche Zeit, die sich auch noch auf die  Tage "zwischen den Jahren" ausweiten würde. Das war dem ICE relativ egal, wenn auch nicht unbedingt der Deutschen Bahn oder den Personen, die dahinter standen,  und die diese  Nachricht mit Freuden feierten. Keine weiße Weihnachten, keine Streckenprobleme!




Harry, Zugbegleiter

Bei zumindest einem Deutsche-Bahn-Kollegen konnte ich mich jedes Jahr beliebt machen, wenn ich seinen Dienst an den Weihnachtstagen übernahm. Das machte ich nun bereits seit etlichen Jahren. Und ganz uneigennützig war das nicht, denn Weihnachten bedeutete mir längst nicht mehr als ein paar trübsinnige Tage, die ich ganz allein verbringen müsste. Hinter mancher Uneigennützigkeit steht auch durchaus einmal ein egoistischer Gedanke.

Es machte mir aber auch wirklich Freude, die eilenden Leute zu beobachten, die gerade eben noch unseren Zug erreichten ... und die vielleicht lieber gar nicht  fahren wollten oder auch lieber ganz woanders hin reisen würden. Wer wusste schon, was hinter den oft gestressten Gesichtern vor sich ging und welche Geschichten hinter ihren Stirnen lauerten. Manchmal wurde jemand während der langen Fahrt redselig ... aber selten konzentrierte sich das Redenwollen auf mich als Zugbegleiter. Meistens nahmen die Leute mich nur kurz wahr, wenn ich ihre Fahrscheine überprüfte, um danach mein Gesicht sofort wieder zu vergessen.

Ich setzte mich hin und wieder - und besonders an diesen Tagen - gern in ein Großraum-Abteil und lauschte den Gesprächen, falls sie sich ergaben. Manche Passagiere telefonierten auch nur, was ich eigentlich unterbinden sollte ... aber wenn es die einzige Abwechslung war? Viele saßen vor ihren Laptops ... meistens bis zur letzten Minute, bevor sie ihr Ziel erreichten, und dann dort mit wem auch immer die Weihnachtstage begehen würden.

Gerne hätte ich auch ein Ziel gehabt für die Feiertage, hätte mit meiner Familie gelacht, gegessen, getrunken, vielleicht wäre ich sogar in eine Weihnachtsmesse gegangen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Aber auf mich wartete niemand. Ich würde den Zug bis Süddeutschland begleiten,

und dann wieder zurück fahren. Andere Leute würden schließlich mit mir in die umgekehrte Richtung fahren, andere Gespräche kämen zustande ... aber ähnlich blieben sich die Fahrgäste dennoch. Alle hatten es eilig. Gut so, dass wir ein paar Streckenabschnitte  auf Hochgeschwindigkeit fahren konnten ... und die wenigsten mussten noch einmal umsteigen und in langsamen Regionalzügen an ihr Ziel gelangen.

Gleich begann der Zustieg, und in einer Viertelstunde würden wir abfahren. Alles war im Grunde wie immer, nur dass durch das Datum die Menschen andere Geschichten im Gepäck hatten als sonst. Aber warum blieben sie nicht einfach dort, wo sie waren und feierten ihr Weihnachten?

Lotte

Wie an jedem Heiligabend seit fünf Jahren begab ich mich voller Unbehagen auf den Weg zum Bahnhof, um meinen Zug nach München zu erreichen. Jedesmal hoffte ich, er würde ausfallen, der Bahnhof wäre über Nacht von Chaoten verrammelt und verriegelt worden ... oder sonstwas, Hauptsache, eine Entschuldigung käme her, um mich nicht auf die Reise begeben zu müssen. Eine andere außer höherer Gewalt würden Armin und Rosalinde selbstverständlich nicht dulden - und selbst bei einer Unschuldsvermutung meinerseits würden sie noch nach dem kleinen Funken suchen, der mich trotzdem in die Verantwortung nehmen könnte.

Armin und Rosalinde waren meine Schwiegereltern. Als Paul noch lebte, waren sie mir gegenüber weitaus weniger anhänglich gewesen und hätten gern auf meine allweihnachtliche Anwesenheit verzichtet. Doch Pauls früher Unfall-Tod hatte alles verändert.

Zunächst missfiel es ihnen, dass wir keine Kinder hatten. Dann klammerten sie sich an mich, als hätte ich noch irgendwo in einem geheimen Labor ein bisschen Sperma von Paul sichern lassen ...


Copyright (wie alle Blog-Beiträge): Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt



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