Donnerstag, 10. Dezember 2020

10. Dezember 2020 - Adventskalender 2020: Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen: 10. Türchen "Das Hotel im Schneesturm"

Foto: S. B.


 Adventskalender 2020
Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen

10. Türchen:
Das Hotel im Schneesturm

Im Anschluss brachten Ronny und Lisa die Gans auf den Tisch  der großen Gaststube mit der reichlichen Festtags-Dekoration. Dazu reichten sie einen Rotwein, der sich nicht verstecken musste und selbst höchsten Ansprüchen gerecht wurde. Dieses verwinkelte Hotelchen, wie Mary es inzwischen verniedlichend nannte, schien ein Geheimtipp zu sein. Auch die Gans und die Beilagen schmeckten hervorragend. Dass Markus

Vegetarier war, schienen die Hotelinhaber ebenfalls zu wissen, denn er bekam eine enorm schmackhaft aussehende Gemüse- und Salatplatte inklusive feinen Käsezugaben. Aber woher wussten Ronny und Lisa, dass Markus Vegetarier war?

Sie hatten sich zuvor nicht danach erkundigt. Sie hatten überhaupt niemanden nach seinen Vorlieben oder Abneigungen in puncto Essen gefragt.

Frag du auch nichts, sagte Markus zu sich selber, wir sind hier in einem Ausnahme-Zustand.
"Vielleicht sind wir bei Hellsehern zu Gast", lachte Harry diese Unerklärlichkeit beiseite. Er wusste zufällig, dass der Kollege Vegetarier war, aber auch er hatte es versäumt, die Gastleute darauf hinzuweisen. Schlicht und mit anderen Gedanken befasst hatte er nicht daran gedacht.

Es schien ein Abend zu sein, an dem jeder der Anwesenden einfach alles laufen lassen konnte, es würde auf jeden Fall zur allgemeinen Zufriedenheit mehr als reichen. Sie fühlten sich inzwischen gut aufgehoben in diesem seltsamen Hotel, in dem sie angeblich niemand erwartet hatte, aber dennoch alles für sie vorbereitet war.

Als auch die anderen Gestrandeten hörten, dass Markus wirklich Vegetarier war, dies aber nicht kundgetan hatte, dachte 

Lotte, dass sie sich jetzt ebenfalls fallen lassen konnte. Sie hörte auf, es zu bedauern, dass sie ihre Schwiegereltern nicht erreichen konnte. Sollten die sich doch denken, was sie mochten. Es würde sowieso in das Bild passen, das beide von ihr hatten. Nun konnten sie die vielen Fotoalben eben allein aufschlagen und sich samt ihrer Erinnerungen die Messer in den Wunden herumdrehen. Dieses maßlose Selbstmitleid war schließlich schon lange ein großer Teil ihres Lebens. Ein eigenes hatten sie aufgegeben oder es als nicht mehr würdig erachtet, gelebt zu werden. Vielleicht meinten sie auch, es sei unmoralisch, nach einem großen Verlust so weiterzuleben wie zuvor.

Früher hatten sie ihre vielen Reisen geliebt, hatten Freunde eingeladen, wurden von ihnen eingeladen oder man traf sich an einem schönen Ort. Für die beiden hatte sich alles geändert, ihr Leben war völlig auf Links gedreht.

Natürlich hätten sie es gern gesehen, wenn Lotte sich ihren Ansichten, ihrer Wehmut und stillen Verzweiflungen angeschlossen hätte. Aber Lotte war jung genug,

um das Leben noch einmal in die Hände zu nehmen und nach etwas Gutem auszusaugen. Das allerdings würden sie nie verstehen.

Ihr Sohn war tot - sie zusammen waren als Hinterbliebene die lebendigen Toten.

Lotte musste kurz schaudern bei diesen Gedanken, und nicht zuletzt auch wegen dem Abenteuer, in das sie unvermittelt geraten war. Was war das hier für ein Ort, hatte das

alles vielleicht einen Sinn?



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