Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
23. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
"Wir haben vor einem Jahr in diesem Hotel übernachtet, wir haben dort Heiligabend verlebt und nicht nur das, wir haben den Abend gefeiert." Lars musste schlucken.
"Man muss nicht alles hinterfragen", antwortete der Weihnachtsmann, "es war vielleicht nur ein kleines Weihnachtswunder für Gestrandete."
"Ja", sinnierte Mary, "es gibt mehr zwischen Himmel und Erde ..." Der Weihnachtsmann nickte dazu. Aber Mary musste ihn noch einmal anfassen, und zwar an den Armen, an seinem Oberkörper und den Schultern - sie musste sich vergewissern, dass er nicht auch zu den "Dingen zwischen Himmel und Erde" gehörte, sondern ein lebendiges Wesen war.
Er fühlte sich sehr lebendig an.
"Ich nehme euch mit in mein Haus", sagte er, "diesen Heiligabend könnt ihr bei mir verbringen. Wenn ihr möchtet."
Es begann, leise zu schneien, nur ein bisschen, nur so viel, dass alles glitzerte, selbst das verfallene Hotel. Und für einen kurzen Moment sah es wieder verführerisch einladend aus, aber dieser Moment verstrich, ohne dass er Wirklichkeit wurde.
"Wir folgen dir gerne", antwortete Markus und sah sich um Zustimmung bittend im Kreis seiner Freunde um. Die nickten. Der Schnee wurde etwas dichter, war aber weit von dem Schneesturm des Vorjahres entfernt - und sie stapften hindurch, auf den Fersen des Weihnachtsmannes.
Sie liefen etwa eine halbe Stunde, als sie an seinem kleinen Haus ankamen. Es war von außen weihnachtlich beleuchtet, und als sie es betraten, sahen sie, dass es auch innen festlich geschmückt war. Aus der Küche kam der Duft, den Mary gleich als den von Bratäpfeln identifizierte. Wer hatte die Äpfel wann in den Ofen geschoben? Immerhin musste der Weihnachtsmann mindestens eine Stunde unterwegs gewesen sein.
Die Antwort kam sogleich aus der Küche. Sie hatte eine rote Schürze umgebunden und ein freundliches, altes Gesicht. Ein paar rosa Strähnen durchzogen das Grau ihrer Haare.
"Ich bin Josefine", stellte sie sich vor, "ich führe dem alten Zausel seit vielen Jahren den Haushalt. Und heute hat er mich gebeten, auch den Abend hier zu verbringen. Natürlich nur, weil er selber nicht kochen kann ..." Sie lachte.
Kurze Zeit später servierte Josefine die ersten Glühweine des Abends und für jeden einen Bratapfel. "Das ist nur ein kleiner Willkommensgruß aus der Küche", sagte sie.
Und nicht nur Mary fragte sich, woher sie und der Weihnachtsmann wohl gewusst haben mochten, dass sie heute, ein Jahr später, wieder eine "Herberge" suchen würden. Auch die Frage, inwieweit der Weihnachtsmann an dem Vorjahres-Wunder beteiligt gewesen war, stellte sich ... denn das Hotel gab es seinen eigenen Aussagen gemäß schließlich seit 40 Jahren nicht mehr.
Lotte seufzte tief. Sie wollte weder Fragen noch Antworten. Sie wollte sich einfach nur freuen, diesen Abend im Kreis ihrer Freunde zu genießen.
Im vergangenen Jahr hatte sie endlich die Zeit gefunden, um Paul zu trauern. Ihr war zuvor gar nicht klar gewesen, dass man sich auch fürs Trauern Freiräume schaffen musste, um endlich wieder neu zu beginnen, ohne das Vergangene zu vergessen.
Sogar eine Trauergruppe hatte sie aufgesucht und dort viele Antworten gefunden, aber auch viele Fragen stellen dürfen.
Nun fühlte sie sich freier. Selbst in ihrem Umgang mit Armin und Rosalinde war sie freier und nicht mehr verkrampft. Sie genoss die Zeit mit ihnen, verhüllte aber auch nicht ihre eigenen Wünsche, was den gemeinsamen Zeitvertreib anbelangte. Die meisten Fotoalben blieben seitdem in Rosalindes Schrank ... zwar war Paul noch immer anwesend, obwohl er so weit weg war - aber erstmals fühlte Lotte, dass auch ihre Anwesenheit sehr viel zählte und ihre alten Schwiegereltern glücklich machte.
Der Weihnachtsmann verabschiedete sich von seinen Gästen, allerdings nur für ein Viertelstündchen.
Als er zurück kehrte, stand ein freundlich aussehender alter Mann vor ihnen, der recht attraktiv für seine fortgeschrittenen Lebensjahre war.
Aber, dachte Mary, es ist nicht Roland. Sie war ein wenig enttäuscht.
Copyright Silvia Gehrmann
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