Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
11. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
So wünschte sich Lotte für einen Moment, dass ihre Schwiegereltern auch hier wären, dies alles sehen und staunen könnten - an diesem völlig aus der Zeit und dem Vernünftigen herausgefallenen Ort mit den eben solchen Gastleuten.
Sie hätte sich auch keinen Deut gewundert, wenn die Tür plötzlich aufgegangen und Armin und Rosalinde hereingekommen wären. Der Ort schien so verzaubert, dass alles im Rahmen seiner Möglichkeiten lag.
Nein, es ist nur der Umstand, dass wir hier eingeschneit sind, rückte sie ihren Kopf selber zurecht. Auf der anderen Seite reflektierte sie erstmalig den tragischen Verlust, den ihre Schwiegereltern hinnehmen mussten. Ein Kind, und sei es auch erwachsen, an den Tod zu verlieren, war das Schlimmste, das Eltern passieren konnten. Sie selber als Pauls Witwe war ihm Gegensatz zu ihnen viel besser dran - auch, wenn sie Paul nie vergessen würde und immer in Liebe an ihn denken würde, ihr Leben ging weiter und irgendwann wäre der Schmerz über seinen Verlust einer guten Erinnerung an ihn gewichen. Derart würden Eltern es nie sehen können. Mit dem Tod des Kindes war ihnen bei lebendigem Leibe ihr Herz herausgerissen worden. Es schlug weiter, obwohl es nur noch unter Mühen pumpte, aber nicht voller Elan und Lebenskraft.
Erstmals fehlten ihr die beiden sogar ein wenig. Zwar war sie gar nicht gerne in diesem verzauberten eingeschneiten Häuschen, aber sie fühlte plötzlich, dass ihre Gedanken den Schwiegereltern gegenüber sanfter wurden. Sobald es möglich war, würde sie ihre Fahrt fortsetzen, und sie hoffte stark, dass sie auch vorher noch mit ihnen telefonieren konnte.
Zwischendurch überprüfte Lotte stetig ihr Smart-Phone nach einem Netz-Empfang, aber das war ein sinnloses Unterfangen. Vermutlich gab es in diesem Haus niemals ein Handy-Netz, weil es einfach nicht von dieser Welt war ... und vielleicht irgendwo in der Eifel lag, aber dennoch eher separat in den Wolken.
Wäre sie allein mit den Hotelbetreibern gewesen, hätte sie sich vielleicht gefürchtet, aber im Laufe der Stunden wurden ihr die anderen lieb und teuer.
Da war Mary, die bereits 75 Jahre alt, aber mit einem jugendlichen Schwung gesegnet war. Wann immer Lotte einen kleinen Durchhänger hatte, kamen ein paar passende Worte von Mary.
Klaas sehnte sich nach seinen Kindern, und er erzählte den neuen Bekannten von ihnen, aber auch er schien sich inzwischen mit der Situation arrangiert zu haben.
Sie hatten gerade das reichhaltige Heiligabend-Essen hinter sich gebracht, als es laut an der Tür klopfte. Ronny sprang auf, als hätte er dieses Klopfen erwartet und öffnete die Eingangstür.
Ein als Weihnachtsmann verkleideter Mann stand draußen und wurde sogleich in das Esszimmer geführt, zum Staunen und zur Freude der Gäste.
Aber wo kam er jetzt und bei diesem Wetter nur her? - fragten sich alle gleichzeitig, ohne diese Frage auszusprechen. Sie selber hatten trotz ihres Kleinbusses nur mit Mühe den Weg hierher gefunden und nach dem Aussteigen kaum die Hände vor den Augen gesehen.
Copyright Silvia Gehrmann
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen