Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
18. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
Harry und Markus verband viel mehr. Sie entdeckten an diesem Abend Gemeinsamkeiten. Einige waren belanglos - wie die, dass beide gern Tennis spielten. Eine andere Gemeinsamkeit war ihre Liebe zu der Philosophie und den Philosophen, und die griff tiefer. Auch fotografierten sie beide sehr gerne und voller Leidenschaft für die Motive. Sie hatten an diesem Abend jeweils bereits eine beträchtliche Anzahl von Fotos geschossen. Man musste soviel wie möglich Erinnerungen an den einmaligen Heiligabend sammeln. Dazu gehörten neben den neuen Freundschaften auch die ersten Fotos mit diesen - und die Umgebung verdiente es ebenfalls allemal, in Bildern verewigt zu werden.
Beide hegten wiederum ein gutes Gefühl für die viel ältere Mary, deren Lebenserfahrung sie alle bereichern würde. Markus kam es in den Sinn, dass es vielleicht völlig falsch ist, meistens nur Freunde im nahezu selben Alter zu haben. Die Unterschiede machten den Reiz.
Und Klaas fand Markus ohnehin sehr bezaubernd. Beinahe fühlte er schon Schmetterlinge im Bauch, aber die konnten auch von etwas anderem herrühren, nämlich von diesem einzigartigen Abend in dieser einzigartigen Umgebung.
Lotte ihrerseits fühlte sich auch zu allen hingezogen. Es war, als wären mit ihren Hilfen heute Schleier von ihren Augen gefallen. Schleier, die sie sonst noch ewig heruntergezogen gehalten hätte. Mary war bezaubernd, Harry ein Schatz und Markus und Klaas zwei Augenweiden, die unschlagbar sein würden, wenn sie sich als Paar zusammentun würden. Dieser Abend war dazu gedacht, ihrer aller Leben ein Happy End hinzuzufügen,
obwohl es nach diesem Abend natürlich nicht zu Ende sein würde. Ihre Freundschaft hatte gerade erst begonnen, aber sie alle waren sich bereits mehr als sicher, dass es wahre Freundschaften waren. Sie tauschten Adressen aus und Telefonnummern, und sie wollten eine WhatsApp-Gruppe gründen, sobald es wieder einen Netzempfang gab. Man würde Mary, die bislang nicht viel vom Internet gehalten hatte, ein wenig schulen. Aber sie war eine kluge Frau, sie würde das System schnell verstehen.
Vor allem aber genossen sie diesen einzigartigen Abend auch weiterhin. Ronny füllte stetig ihre Gläser, und sie fühlten sich nach der Anwesenheit des Weihnachtsmannes wie Kinder nach ihrer ersten bewusst erlebten Bescherung.
Der Weihnachtsmann allerdings war inzwischen wieder verschwunden. Er hatte das Haus verlassen, und war durch den Schnee gestapft. Sie hatten ihm nachgewunken, aber selber wäre niemand von ihnen jetzt gern nach draußen gegangen. Die Welt sah noch immer
unwirklich aus, grell weiß mitten in der Nacht.
Mary
Ich war so dankbar, dieses erleben zu dürfen. Und der Weihnachtsmann war das Highlight. Wenn ich in sein verkleidetes Gesicht sah, dachte ich, in den Augen
Rolands zu erkennen. Aber unsere Liebe war vor so langer Zeit gewesen, und ich hätte heute wohl alle friedlichen und freundlichen Augen, deren weitere Gesichtszüge ich nicht sehen konnte,
für Rolands gehalten.
Trotzdem - es hätte diesem wahren Märchen das Sahnehäubchen aufgesetzt.
Copyright Silvia Gehrmann
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