Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
16. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
Ronny nahm Mary mit einem einverständlichen Nicken die CD aus der Hand, um sie in den Player zu legen. Die alte Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lauschte den Klängen. Sie hatte Roland nie wieder getroffen, aber dieses Lied erinnerte sie an nichts anderes außer dieser lange zurückliegenden Liebe, die sich nie erfüllt hatte ... sondern eines Tages sang- und klanglos vorbei gewesen war. Sie wusste nicht, was aus Roland geworden war oder ob er überhaupt noch lebte.
Trotz allem war dies nicht der Tag, eine lange bekannte Traurigkeit mit einem Schlag zurückzuholen. Sie hatte es doch längst überwunden, sie hatte andere Freunde gehabt, die sie auch sehr gern gemocht hatte. Doch sie gestand sich ein, dass sie auch noch
nach 50 Jahren beinahe täglich zumindest einmal an ihn dachte. Mal war es nur ein kurzes Aufflackern einer fernen Erinnerung, mal erinnerte sie ein Fernseh-Film an ähnliche Erlebnisse mit Roland, mal dachte sie nur ganz flüchtig an ihn.
Mary war keine sentimentale Frau, die an Vergangenem klebte ... aber Roland bildete in allem eine Ausnahme für sie: er war ihr immer gegenwärtig geblieben. Jedoch war er nie derart gegenwärtig wie an diesem Tag, an diesem Abend. Das war sicher ein kleiner Schauer, den ihr das Schicksal über den Rücken laufen lassen wollte. Als pragmatische Frau fiel es ihr dennoch schwer, an schicksalhafte Begegnungen zu glauben. Selbst wenn ein Zufall wie an diesem Abend sie alle zueinander geführt hatte, so war das keineswegs überirdisch, sondern nur nicht
völlig wirklich und vordergründig logisch erklärbar.
Der Weihnachtsmann überreichte nun ein Geschenk an Lotte, und Mary wandte sich der viel jüngeren Frau zu, um sich mit ihr über die CD zu freuen.
Lotte verstummte für einen Moment, als sie die Weihnachts-Gabe in ihren Händen hielt:
Wish you were here von Pink Floyd "Das war Pauls und mein Lieblingslied", brachte Lotte mit zitternder Stimme heraus. Und auf der Rückseite stand:
Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.
Friedrich Nietzsche (1844 - 1900)
Schlagartig wurde Lotte klar, dass sie nie auf eine richtige Art um Paul getrauert hatte. Sie hatte die Trauer einfach verdrängt und mit Arbeit zugeschüttet. Ohne Pause hatte sie ihren Bürostuhl wieder eingenommen und sich in die Buchhaltung der großen Firma gestürzt, in der sie arbeitete. Fortan war ihr jede Überstunde lieb und teuer, so dass sie mittlerweile auf eine sehr beträchtliche Anzahl von Überstunden gekommen war.
Mary legte einen Arm um Lotte und streichelte mit der Hand die zusammengefalteten Hände der jungen Frau. Sie hatte einen schweren Verlust erlitten,
aber dieser hatte in ihrem Kopf keinen angemessenen Platz gefunden. Mary wusste, wie schwer so etwas wiegen konnte.
"Wir sind bei dir", sagte die ältere Mary zu der jüngeren Lotte, und das war der Start für das allgemeine Duzen der neuen Freunde untereinander.
"Danke", antwortete Lotte, "ich bin so froh, genau hier zu sein und genau mit euch hier zu sein."
Copyright Silvia Gehrmann
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