Samstag, 12. Dezember 2020

12. Dezember 2020 - Adventskalender 2020 - Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen - 12. Türchen: Das Hotel im Schneesturm


 

Adventskalender 2020
Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen

12. Türchen
Das Hotel im Schneesturm

"Mich wundert gar nichts mehr", unterbrach Mary als Erste das erstaunte Schweigen, und sie blickte dem Mann in Rot  fest in die Augen, "schön, dass du da bist."

"Ja, Kleines", antwortete der Verkleidete. Dies gab Mary einen plötzlichen und unerwarteten Stich in die Herzgegend.

Mary

Es war so lange her, dass mich zuletzt ein Mann, ein ganz bestimmter, "Kleines" genannt hatte. Diesen Mann habe ich nie vergessen, und vielleicht habe ich auch deswegen nie geheiratet. Zwar war ich mein Leben lang kein Kind von Traurigkeit, aber zu einer Ehe mit allem Drum und Dran hat es gefühlsmäßig nie gereicht. Manchmal war ich verliebt, aber es hat nie wirklich lange angehalten, weil ich dummerweise diesen

ständigen Vergleichs-Menschen vor meinen Augen hatte: Roland, der nicht nur attraktiv war, was ja für eine sehr junge Frau nicht unerheblich ist, sondern auch ausgesprochen klug, ohne ein Besserwisser zu sein. Roland, mit dem mich eine große Liebe verbunden hatte, obwohl ich mir damals hin und wieder und im Gegensatz zu ihm recht dumm vorgekommen war.

Im Nachhinein war mir damals schnell klar, dass ich mich selber klein gemacht habe, weil ich immer das Gefühl hatte, solch einen Mann nicht verdient zu haben. Er war einfach der perfekte Mensch, innerlich wie äußerlich, kopf- und auch herzmäßig. Niemals ließ er seine intellektuelle Überlegenheit raushängen ... ich spürte nur selber, dass ich noch viel lernen musste, nicht allein wissens-, sondern auch gefühlsmäßig. Das machte mich für diese Beziehung zu einem  gefährlichen Element, dem Sprengstoff,  ...

und nach vielen sinn- und fruchtlosen Streitereien und drei Jahren geriet ich eines Tages über eine Belanglosigkeit derart in Wut, dass ich mit ihm Schluss machte.

Und heute, so viele, viele Jahre später strandete ich mit ein paar Leuten in einem vielleicht verzauberten Hotel und der völlig überraschend hereinkommende Nikolaus nannte mich alte Frau "Kleines".

Ein Schluck Glühwein blieb mir im Halse stecken und ich prustete die Flüssigkeit hinaus.

Der Nikolaus lächelte über den Strahl Glühwein, der sich in Richtung Tischmitte ergoß. Sofort eilte Lisa mit einem Lappen heran, um das Malheur zu beseitigen. Dabei warf sie Mary einen freundlichen Blick zu, der besagte "halb so schlimm, kann passieren".

Mary war es auch nur einen kurzen Moment lang peinlich, denn auch die anderen reagierten entsprechend freundlich auf diesen Ausrutscher. Immerhin fanden sie es auch ein bisschen merkwürdig, dass dieser Nikolaus ausgerechnet die Älteste "Kleines" nannte.

Obwohl natürlich das Erscheinen des Nikolauses überhaupt seltsam genug war. Draußen tobte noch immer ein undurchsichtiger Schneesturm. Aber vielleicht wohnte er gleich nebenan? Oder er hatte nur an die Tür geklopft, obwohl er selber im Hotel lebte?

Es schien nichts unmöglich an diesem Heiligabend. Klaas dachte, er müsse nur die Augen schließen, und würde gleich in München Hauptbahnhof ankommen. Er versuchte es, aber er befand sich noch immer in diesem

Hotel mit den anderen Mitreisenden und Angestellten der Deutschen Bahn.


Copyright Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt

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