Das Hotel im Schneesturm
Das schloßähnliche, verwinkelte Hotel mit den wenigen Zimmern schien aus einer anderen Zeit zu stammen, aber es passte hervorragend in die Schneelandschaft, die sich über Haus, Garten und die gesamte Umgebung gelegt hatte. Das Haus schien wie extra für Weihnachten aus dem Boden gestampft zu sein, so unwirklich war es. Lotte stellte sich vor, dass es sang- und klanglos spätestens am 1. Januar verschwinden würde, um eine Auferstehung an Heiligabend des kommenden Jahres zu feiern. Einen Moment kam es Lotte sogar in den Sinn, dass dies alles eine Inszenierung war, ein Weihnachtswunder vielleicht, um sie vor zumindest einem Abend bei ihren Schwiegereltern zu retten. Schließlich war jede Stunde ohne die beiden eine Gewinnmaximierung.
Klaas sah das Hotel völlig anders, aber dann auch wieder ähnlich: Weil es dieses und andere kleine Hotels in der unmittelbaren Nähe des gestörten Bahnverkehrs gab, bemühte man sich seitens der Deutschen Bahn überhaupt nicht darum, das Hindernis zügig aus dem Weg zu schaffen. Irgendwie schaffte es Weihnachten in diesem Jahr - mit Hilfe der Bahn - besonders dramatisch rüber zu kommen und die Form eines aus dem Rahmen gefallenen Hotels anzunehmen. Diese Verzögerung bedeutete für ihn nur, dass sie von der geliebten Zeit mit seinen Zwilligen abgezogen wurde. Er war stinksauer, aber wusste nicht genau, auf wen er das mit Recht sein konnte.
Neben Lotte und Klaas wurden auch Harry, der Zugbegleiter und Markus, der Lokführer hier untergebracht. Außerdem noch eine alte Frau namens Mary. Die Unterbringungen waren willkürlich erfolgt, so dass sich alle erst einmal als zusammengewürfelt betrachten mussten. Niemand von ihnen kannte dieses Hotel, noch wussten sie genau, in welcher Ecke von Deutschland sie jetzt waren. Natürlich abgesehen vom Lok-Führer, dem immerhin bekannt war, dass sie in der Eifel gestrandet waren ... also gar nicht so weit entfernt vom Ausgangs-Bahnhof. Aber der Bus war durch die beinahe unsichtbare Landschaft gefahren, so dass auch er den Ortsnamen nicht benennen konnte.
Markus
Ich hatte oft Dienst an Weihnachtstagen, und beinahe jedesmal passierte etwas Ungeplantes. Aber wegen Schneewehen und auf den Schienen liegenden Bäumen in einem alten Hotel zu stranden, war auch in meinen Feiertagsprogrammen noch nie vorgekommen.
Mir konnte es recht sein, denn auch auf mich wartete zu Hause niemand. Einem kleinen Abenteuer mit viel Schnee und einem bisschen Mystik war ich nicht abgeneigt, denn ich war müde. Nicht körperlich müde, aber ein wenig müde vom Leben. Mir würden ein paar ruhige Stunden in einer fast traumhaft anmutenden Atmosphäre sicher gut tun.
Ich musste an Chris denken, der mich vor fast zwei Jahren nach einer Krebserkrankung für immer verlassen hatte. Kam dieses unerwartete Geschenk der Ruhe von ihm? Als Gruß aus dem Jenseits sozusagen und als Zeichen dafür, dass er mich nicht vergessen hatte?
Alles Quatsch natürlich, aber die gesamte Schloss-Atmosphäre ließ seltsame Gedanken nur so sprießen. Ich konnte mich dagegen gar nicht wehren, und nach einer Viertelstunde in diesem Märchenschloss gab ich es auch auf.
Die andersartige Atmosphäre wurde noch deutlicher, als die beiden Hotelbesitzer die Gäste begrüßten. Sie stellten sich als Ronny und Lisa vor, und sie wirkten weniger wie ein Mann und eine Frau, sondern eher wie zwei Rauschgoldengel. Ihre Kleider glänzten golden und breiteten sich voluminös um ihre Körper aus. Sie mussten sich rasch in kitschige Schale geworfen haben,
als sie die Nachricht bekamen, an diesem Tag noch Gäste aufnehmen zu müssen. Denn die Zug-Passagiere samt dem Zug-Personal waren die einzigen Gäste an diesem Heiligabend.
Copyright Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt
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