Isolde war über 80 Jahre alt, und sie lebte seit zwei Jahren in einem Altersheim. Sie hatte es sich selber ausgesucht, ihren Lebensabend dort verbringen zu wollen, denn ihren drei Kindern wollte sie unter keinen Umständen zur Last fallen. Nun wurden die Umstände in 2020
allerdings derart traurig, dass sie sich nicht nur manchmal wünschte, sie wäre nicht dort, wo sie nun ist. Seit vielen Monaten hatte sie ihre Kinder kaum gesehen, und heute war Weihnachten. Vielleicht mein letztes, dachte sie. Die Kinder waren abtelefoniert worden, aber es war nicht einmal halb so schön, nur ihre Stimmen zu hören. Sie wollte sie gerne sehen, sie anfassen, ihnen vielleicht etwas mit auf ihre Wege geben - alles war anders
seit Corona.
Im Altersheim bewohnte sie - nun auch isoliert - ihr Mini-Apartment, und selbst das Pflegepersonal nahm sich kaum die Zeit, länger als nötig in ihrem Zimmer zu verweilen. Insgesamt sollte es bereits ein paar an Corona verstorbene Heimbewohner geben. Genau wusste sie das nicht, man trat es nicht breit, sondern achtete nur auf die Einhaltung der Hygiene-Regeln.
Es war Heiligabend, und Isolde hatte sich langsam zum Fenster gequält, denn jeder Meter war schmerzhaft und schien Tribut von ihren ganzen Körper zu verlangen, als sei Schmerz ihr neuer Herrscher neben Corona. Aber sie sehnte sich danach, einen Blick hinauszuwerfen, um Menschen zu sehen, wenn auch nur aus der Ferne, wenn auch ihr unbekannte. Draußen war es allerdings sehr still, und als sie eine halbe Stunde am Fenster verbracht hatte, hatte sie gerade einmal zwei Leute gesehen. Die trugen Mund-Nasen-Schutzmasken. Isoldes Schutz hing an ihrem Kinn, denn sobald es klopfte, musste sie die Maske aufsetzen.
Es klopfte eine halbe Stunde später, und brav rückte Isolde ihre Maske an die richtige Stelle. Die Helferin Petra brachte das Abendessen und fragte, ob sie den Fernseher anstellen sollte. Ja, Isolde würde fernsehen, denn nahsehen ... verboten, gefährlich, traurig.
Sie naschte nur an ihrem Abendbrot, denn es gab nicht mehr viel, das sie hungrig werden ließ. Mehr oder weniger saß sie den ganzen Tag in ihrem bequemen Sessel - und manchmal wünschte sie sich, sich zumindest besser bewegen zu können,
und sei es um den Preis ihres wachen Verstandes. Denn der funktionierte noch hervorragend.
Der Vater
Während im Fernseher ein Film lief, schloss Isolde langsam ihre Augen. Die Stimmen aus dem Film würden ihr helfen, ein Nickerchen zu machen. Ins Bett gehen und von dort aus fernsehen wollte sie nicht. Das Bett hatte überhaupt etwas Endgültiges für Isolde bekommen ...
Plötzlich wurde es hell im Wohnbereich, und Isolde musste blinzeln. Vor ihr stand in all seiner Schönheit ... ihr Vater. Er streichelte sanft über Isoldes Haar, und sie griff nach seiner Hand.
"Wir haben uns so lange nicht gesehen", sagte ihr Vater, "ich habe meine kleine Prinzessin sehr vermisst."
Isolde fühlte ein wohliges Gefühl des Daheimseins. Plötzlich war es für einen Moment genau so wie es damals in ihrer Kindheit war. Sie glaubte sogar, den Duft von Lebkuchen zu schnuppern, die ihr Vater immer für Weihnachten gebacken hatte. Dann sah sie das von innen verhüllte und abgeschlossene Türschloss, durch das sie nicht den Hauch einer Vorabsicht auf das Weihnachtszimmer sehen durfte. Erst musste das Glöckchen klingen, dann wurde der Schlüssel in der Tür umgedreht, und sie durfte endlich einen herrlichen Baum und viele Geschenke darunter entdecken.
Aber auch gegenwärtig war der Tod ihres Vaters. Sie hatte gerade ihr erstes Kind bekommen, als er mit seinem Auto verunglückte. Ein Tod von jetzt auf gleich, und es gab keine Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten. Manchmal hasste sie ihr Neugeborenes, weil es sie davon abhielt, angemessen um ihren Vater trauern zu können. Das Baby brauchte schließlich all ihre Fürsorge und fragte nicht, ob es Isolde gerade recht war.
Isolde wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ihr Vater sich verabschiedete. Sie wollte ihn festhalten, aber er lächelte nur und verschwand aus ihrem Blick. "Bis bald, mein Mädchen", sagte er zum Abschied.
Der Ehemann
Kaum war ihr Vater gegangen, stand er vor ihr: Pierre, ihr Ehemann. Er war so gutaussehend wie eh und je und lächelte sie charmant an. Vor 5 Jahren war er gestorben, aber zu Isoldes Freude hatten sie, wenn auch spät im Leben, am Ende nach vielen nicht so schönen Ehejahren ein paar glückliche. Die nicht so glücklichen Jahre strich sie nun weg, an die wollte sie nicht denken, sondern nur seine Gegenwart genießen.
Er umarmte Isolde und küsste sie auf die Stirn. Das hatte er früher immer gemacht, wenn er sie wegen irgendetwas zurechtwies. Sie hatte seine Stirn-Küsse gehasst,
aber jetzt in diesem Moment fühlte es sich einfach nur liebevoll an. Sie spürte seine Zuneigung, und die wärmte sie wohlig. Im Nachhinein konnte man all nicht so harmonischen Zeiten ohnehin nicht korrigieren.
"Du hast ein schönes, kleines Reich hier, aber du darfst unsere Kinder nicht sehen. Darum bin ich heute hier, ich will dich aufmuntern. Du weißt, dass wir in schwierigen Zeiten immer zusammengehalten haben, nur in den leichten und einfachen Zeiten haben wir uns manchmal ziemlich weit voneinander entfernt."
Isolde nickte und schloss ihre Augen, um die guten Erinnerungen an ihre Ehe besser sehen zu können.
Der Geliebte
Die Nacht der emotionalen Besuche war für Isolde noch nicht vorbei. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Pierre ihr kleines Reich verlassen hatte,
als Andy vor ihr stand und ihr übers Gesicht streichelte. Obwohl ihre Augen noch geschlossen waren, wusste sie sofort, dass er es war, der sie nun besuchte. Sie roch den bekannten Duft seines Parfums, der ihn leicht umhüllte. Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. Isolde hatte ihn sehr vermisst, aber sich schließlich für ihre Ehe und gegen ihren Geliebten entschieden. Mehr zufällig hatte sie ein paar Jahre später erfahren, dass er - noch ziemlich jung - an Krebs verstorben war.
Aber nun war er hier, so jung und schön. Jünger als sie selber, weil er nach Lebensjahren nie so alt geworden war wie es Isolde heute war, aber mit demselben liebevollen Blick auf sie wie damals. In diesen Augen war Isolde früher heillos versunken - es gab Tage und Stunden, in denen sie am liebsten mit ihm Auf und Davon gegangen wäre. Warum sie es nicht getan hatte, wusste Isolde nicht mehr genau - aber vermutlich war es ihr Verantwortungsbewusstsein ihrer Familie gegenüber.
"Das ist gut, dass du noch einmal vorbeikommst", sagte Isolde.
"Ja, und ich war ja immer da, wenn du es in deinen Gedanken wolltest. Wie fühlst du dich?" antwortete er.
"Alt", antwortete Isolde, "und einsam. Aber heute fühle ich mich ein ganzes Stück weniger einsam, ich war noch keine Sekunde wirklich allein heute."
Andy umarmte sie, bevor er sich leise verabschiedete.
Der Hund
Isolde war so glücklich an diesem Heiligabend wie selten zuvor. Beinahe alle, die ihr etwas bedeutet hatten und verstorben waren, hatten sie heute besucht. Es fehlt nur noch
Bonbon.
Kaum hatte sie das gedacht, sprang der kleine Mischlingshund Bonbon auf ihren Schoß und leckte ihr die Nase ab. Das hatte er immer so gern getan. Die Nase war Bonbons Lieblingskörperteil von Isolde. Isolde lachte, weil es kitzelte. Im Gegensatz zu Pierre, der bei seinem heutigen Besuch so jung aussah wie kurz vor seinem Tod -
sah Bonbon so jung aus wie viele Jahre vor seinem Tod, denn er war sagenhafte 18 Jahre alt geworden - und kaum ein Fortgehen hatte Isolde mehr wehgetan als seines.
Sie griff nach ihrem Wollknäuel, an dem ihr Strickzeug hin und trennte den halbfertigen Schal von dem Knäuel, um es
für Bonbon zu werfen. Voller Freude sputete er hinterher und brachte ihr den improvisierten Ball zurück.
Nachdem sie eine Weile gespielt hatten, schmiegte Isolde ihr Gesicht in das Fell von Bonbon und entzückte sich an seinem herrlichen Hunde-Duft.
Am 1. Weihnachtstag
Die Altenpflege-Helferin Petra hatte Frühdienst und klopfte an Isoldes Tür. Nach einer Weile trat sie ein. Auf dem Boden lag etwas im Weg, das sie aufhob ... sie sah, dass es ein Knäuel Wolle war. Isolde verbrachte viel Zeit mit Stricken, das wusste Petra. Dann sah sie, dass neben Isolde der halbfertige Schal ebenfalls auf dem Boden lag ...
Warum hat sie die Wolle von dem Schal getrennt, fragte sie sich.
Erst jetzt bemerkte sie die schmal gewordene Isolde, die eigentlich im Bett liegen müsste, in ihrem Lieblingssessel. Sie hatte ein bezauberndes Lächeln auf den Lippen und ihr Gesicht strahlte etwas ganz Besonderes aus.
Isolde war in der Nacht friedlich und für immer eingeschlafen.
ENDE
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