Eine Kurzgeschichte in 24 Türchen
20. Türchen
Das Hotel im Schneesturm
Am nächsten Morgen, dem 1. Weihnachtsfeiertag, hatte es nicht nur aufgehört, zu schneien, es taute sogar. Mary entdeckte es, als sie aus ihrem Fenster auf die Wege blickte. Nun konnte sie auch ein wenig von der Umgebung des Hotels erkennen,
obwohl dies nichts über den Ort, zu dem es gehörte, aussagte. Das Haus lag inmitten einer Natur- und Waldlandschaft. Andere Häuser konnte sie nicht entdecken. Woher also war der Weihnachtsmann gekommen? Am Abend, als er eintraf und sie alle erfreute, war in der Welt da draußen selbst das Autofahren beinahe unmöglich. Ihre Gruppe war noch rechtzeitig zu dem Hotel gefahren worden, bevor gar nichts mehr weiterging.
Dieser Weihnachtsmann ließ sie nicht los, sie hatte sogar von ihm geträumt. Vor allem aber fühlte sie sich wieder wie die einst junge Mary, die die Welt erobern wollte. Nun, sie hatte sie nicht erobert, aber ein zufriedenes und ausgefülltes Leben geführt. Doch an diesem Morgen kam ihr der Gedanke, dass sie es noch einmal mit der Eroberung der Welt versuchen könnte - sie musste lächeln, denn eine Träumerin war sie eigentlich nicht. Sie war stets die Realistin gewesen. Vielleicht manchmal ein wenig zu nüchtern und zu abwägend.
Aber ab heute wollte sie zuversichtlich in die Zukunft blicken, und auch nicht daran denken, wie wenig davon noch vor ihr lag. Alles war gut, auch die Vergangenheit.
Sie trafen sich gegen halb zehn im Esszimmer des Hotels. Ronny konnte ihnen neben einem Frühstück die Meldung servieren, dass es wieder Netzempfang gab - und wer dennoch noch keines hatte, könnte auf seinem Festnetz telefonieren. Für Lotte, Klaas und Mary musste daher das Frühstück noch eine Weile warten, sie griffen nach ihren Handys - und es stimmte, es gab ein Telefon-Netz.
Ariane schien erleichtert über Klaas' Anruf zu sein, zumindest schien sie kein bisschen böse. Es konnte schließlich jedem passieren, dass er sich auch in der heutigen Zeit der Überpräsentheit mal nicht melden konnte.
"Wir werden sehen, wie wir gleich weiterkommen", versprach Klaas, "gib den Zwillingen einen Kuss von mir, ich freue mich schon sehr auf sie - auf dich auch, Ariane."
Lotte hatte nach ein paar Minuten ihre Schwiegermutter am Handy. Rosalinde schien ebenfalls ziemlich erfreut zu sein, ihre Stimme zu hören: "Ohne dich, meine Lotte, ist Weihnachten kein Weihnachten."
"Ich denke, wir können uns gleich auf den Weg machen", versprach Lotte, "ich habe auch an euch gedacht."
Mary rief ihren Neffen an, der erleichtert war, dass zwar etwas Unerwartetes passiert war, aber nicht etwas eingetreten war, über das er sich seit dem gestrigen Abend Gedanken gemacht hatte. Er war kurz davor gewesen, die Polizei anzurufen ... damit diese bei seiner Tante zu Hause nachschauen konnte.
Es folgte ein üppiges gemeinsames Frühstück, und es wurde viel gelacht. Inzwischen hatte auch Markus Kontakt zu seinem Arbeitgeber, der Deutschen Bahn, aufgenommen.
Zwei Stunden später wurden alle mit einem Bus abgeholt und zum Bahnhof zurück gefahren.
Copyright Silvia Gehrmann
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