Freitag, 4. September 2015

4. September 2015 - Geschichten - "Fünf Witwen" - Teil 1


Eine mystische Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann (obwohl ich für Übersinnliches genau so wenig übrig habe wie für Esoterik)

Teil 1


Fünf Witwen

Als ich an Claudios Grab stand, fielen mir alle seine Sünden wieder ein. Dieser kleine quirlige Italiener, der so gut kochen konnte - und alle Mädel-Herzen besonders mit seinen kreativen Desserts zum Schmelzen brachte, denn von anderen Dingen mag ich weder reden noch an sie denken. Treue kannte der Typ nur seiner Mamma gegenüber, weil er allen hübschen Frauen mit seinen tiefschwarzen Augen die Köpfe verdrehte. Die Anzahl seiner Eroberungen nimmt der Gute mit ins kühle Grab, mir bleiben die Scherbenhaufen seiner Existenz, denn in einem Anfall von Schwäche hatte er mich vor ein paar Jahren geheiratet.

Man kann wohl behaupten, dass er mich geheiratet hat, denn kaum hatte er diese verfängliche Frage an mich gestellt, war ich dem hoffnungslosen Irrglauben verfallen, die glücklichste Frau auf der Erde zu sein. Zumindest die zwischen Süditalien und Hamburg. Denn diese Entfernungen entsprachen genau seinem Aktivitäten-Radius. Nachdem er für sein Restaurant einen Stern erkocht hatte, reiste er zwischen Italien und Norddeutschland hin und her - immer auf der Suche nach neuen Rezepten und innovativen Zutaten - und zweibeinigen Versuchungen.

Im kühlen Norden, in Hamburg, führte ich sein Restaurant - obwohl ich eigentlich etwas völlig anderes erlernt hatte. Mein Leben war von Claudios Ideen und Befehlen und nicht zuletzt seinen Zärtlichkeiten bestimmt, ohne die ich glaubte, nicht mehr leben zu können. Nur in meinen schlimmsten Nächten, in denen ich die bösesten Träume träumte - war mir klar, dass ich auf einem Holzweg war und mein Erwachen eines fernen oder näheren Tages furchtbar sein würde.

Manchmal erwachte ich schweißgebadet und Angst getränkt in der Nacht, aber er beruhigte mich stets: "Cara mia, Minnie - du träumst allein, aber immer wenn du wach bist, bin ich da."

So war er. So sprach er. Und vielleicht hätte er nicht so gut kochen können sollen - und ich wäre ihm nie verfallen. Oder er wäre als Liebhaber nicht so gewesen, dass seine schönsten Desserts dies nicht übertreffen konnten.

Nun war er tot. Dahingerafft von einem Herzinfarkt, geradewegs ein Synonym-Tod für einen Herzensbrecher, mit nur dreiundvierzig Jahren. Die Menge der Trauernden war unendlich groß - und ich erwartete, dass besonders seine Stammgäste den Koch per Applaus wieder ins Leben zurückholen würden. Sie versuchten es auch - ohne Erfolg.

Ich sah in die Gesichter der vielen Feinschmecker, und ich sah Schokolade und Eiscreme und Vanille und noch tausend andere Dinge in ihren Augen, deren Rezept-Kompositionen nun für immer mit in seinem kühlen Grab verschwinden würden. Da gab es ganz viel Bedauern, nicht mehr diese himmlischen Desserts genießen zu dürfen und zuvor die feinsten Leckereien in die Münder zu schieben, die hoffnungsfroh und nie enttäuscht auf die krönenden Abschlüsse warteten

Und ich sah in die leicht verschleierten Gesichter der vier Frauen, die weitaus mehr als nur den Koch in ihm geliebt hatten. In gewisser Weise machten sie mir den Status als alleinige Witwe streitig und führten allen vor Augen, wie absurd mein Gedanke war, Claudio könnte sein Herz nur einer Frau geschenkt haben. Er beschränkte sich ja auch nicht auf eine Zutat für seine paradiesischen Gerichte. Damit es ein wirkliches Himmelreich wurde, gehörten viele Ingredienzien in eine Speise - und folglich hielt er es mit seinem Leben nicht anders.

Darum würzten posthum fünf Witwen sein Begräbnis, wobei nur ich alleine einen amtlichen Stempel für diesen Status besaß. Doch was bedeuteten Urkunden und Stempel und eine gemeinsame Adresse, wenn ein Kochgott zur Letzten Ruhe getragen wurde?

Plötzlich spürte ich einen Windhauch, der mir etwas vor die Füße geweht hatte, und als ich mich danach bückte, fand ich eine Rose. In einer Art von Zeitlupe richtete ich mich wieder auf, von einer Möglichkeit kalt erfasst, die sich sogleich als Tatsache heraus stellte: Auch die anderen vier hielten jetzt je eine Rose in ihren Händen. Mir wurde eiskalt ...

Fortsetzung folgt.
Copyright: Silvia Gehrmann


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