Eine Kurzgeschichte
von Silvia Gehrmann
4. Teil
Fünf Witwen
Vielleicht sind andere Menschen anders gestrickt und nehmen derartige Erlebnisse mit der frohen Gelassenheit hin, dass da irgendwas zwischen Himmel und Erde passieren kann, welches sie am Ende zufriedener zurück lässt. Ich war nicht so, mir wurde eiskalt, auch im Magenbereich, denn der wollte sich umdrehen und den letzten genossenen Inhalt zurück geben. Gerade noch schaffte ich es, das zu unterdrücken, Maria mit mir über die endlosen Wege an den vielen Gräbern vorbei zum Ausgang zu führen, sozusagen in eine Freiheit, eine, die mir verheißungsvoll erschien, auch wenn sie ohne Claudio stattfinden würde.
"Ich liebte sein Zitronen-Sorbet", sagte Maria dann und hatte einen Blick wie ein Hund, dem man eine Dosis Valium verpasste. Sie schien offensichtlich nicht erschrocken, sondern entspannt: Zum ersten mal, seitdem ihr Sohn gestorben war.
Ich bugsierte sie zum Auto und hoffte, dass alles ein Irrtum war: So wie die Rosen und dieses Ghost-Book. Und dann diese Düfte, die auf einem Friedhof gar nichts zu suchen hatten. Aber vielleicht war jemand an uns vorbei gegangen, der eben dieses in einem Einkaufskorb gehabt hatte ... Eine kleine Hoffnung auf eine spukfreie Zukunft gab es noch.
Doch es endete nicht: Zu Hause lag ein penetranter Duft von Eau Sauvage im Badezimmer, seinem After Shave und Parfum. Oder bildete ich mir das alles doch nur ein? Aber dann bildete Maria sich das auch ein. Und January und Pia und Monica und Chris - die mich an diesem Tag noch anriefen, nachdem sie ähnliche Erlebnisse gehabt hatten.
Natürlich fand Chris das überhaupt nicht schlimm, sondern sah es als Bestätigung ihres hellseherischen Betätigungsfeldes. Sie meinte sogar, sie hätte ihn beschworen, in irgendeiner Form zurück zu kommen. Irgendwann einmal, und natürlich rein prophylaktisch, denn Claudio war ja noch jung gewesen. Zumindest ich hatte sie darum nicht gebeten.
In den folgenden Wochen verlagerten sich die spukigen Ereignisse für mich auf einen einzigen Wochentag - den Freitag. Manchmal glaubte ich, sogar Berührungen zu spüren. Und wenn ich den anderen glauben konnte, so suchte der gute Claudio uns auf fünf Wochentage verteilt heim.
Nur Maria hatte keinerlei Erlebnisse aus der Anderen Welt mehr. Es blieb für sie nur dieser Duft von Zitronen an seinem Grab, und auch der war einmalig und wiederholte sich nicht. Sie war eine tief traurige und trauernde Mutter.
Und ich wurde eine tief verunsicherte Frau, die sich nicht an ihren Freitags-Geist gewöhnen wollte. Sollte ich Chris um Hilfe bitten? Aber wie konnte ich - wenn ich nicht an ihr "Talent" glaubte. Trotz allem, was ich nun selber erlebte. Manchmal war Claudios Seite im Bett zerwühlt, manchmal lagen plötzlich Fotos von gemeinsamen glücklichen Ereignissen vor mir auf dem Tisch, manchmal hing köstlicher Essensduft in der Luft - dessen Urheberin ich mit Sicherheit nicht war.
Vor allem passierte jedoch eines: Ich wurde massiv daran gehindert, ein neues Leben zu beginnen, vielleicht einen neuen Mann kennen zu lernen und das Leben mit Claudio, dem Herzensbrecher, hinter mir zu lassen. So unfair dieser Kerl im Leben gewesen war - er blieb es nach seinem Leben.
Chris und January, aber auch Pia und Monica schienen diese Sorgen nicht zu haben. Pia fragte sich lediglich, was er an den Samstagen und Sonntagen wohl trieb - dort in seinem Jenseits.
"Ganz klar", meinte Chris dazu, "er hat da oben oder da unten oder wo er jetzt ist, schon wieder Liebschaften angefangen. Er kann es einfach nicht lassen. War ja vorhersehbar."
Klar, eine logische Erklärung, und ich fühlte mich, als wollte sie mir verklickern, die Erde sei eine Scheibe.
Ich würde mit Maria reden müssen, ihr alles erzählen. Sie war nicht nur eine liebende Mutter, sondern auch eine tief gläubige Frau. Vielleicht wusste sie einen Rat ...
Letzter Teil folgt
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