Dienstag, 22. September 2015

22. September 2015 - Geschichten - Fünf Witwen - letzter Teil

Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann

5. und letzter Teil:

Fünf Witwen

Maria war überhaupt die einzige Anlaufadresse, die mir dazu einfiel. Und im Grunde seines tiefschwarzen Herzens hatte Claudio auch nur seine Mutter aufrichtig geliebt - und seine Ehe mit mir entsprang eher einem sentimentalen, aber vorübergehenden Gedanken als tiefer Liebe. Genau so gut hätte er January, Pia, Monica oder die jenseits-begabte Chris heiraten können.  Oder eine ganz andere Frau, die wir alle nicht kannten, aber die jetzt vermutlich nicht seinen Geist an den Hacken hatte.

Mit Chris konnte ich nicht einmal über meine Furcht diskutieren, die ich mehr und mehr empfand, wenn mir Claudios Anwesenheit an Freitagen so stark bewusst wurde, dass ich mich noch deutlicher vor dem Tode fürchtete als ohnehin schon. Das hatte nichts Tröstliches oder Beruhigendes: Es machte mich einfach nur verrückt.

Chris hielt die Anwesenheit von Verstorbenen für normal, man könne sie überall spüren, wenn man sich frei von einer Gegenwehr demgegenüber machte. Ich spürte nur, dass sie übergeschnappt war, aber sie war schließlich unheilbar gefangen in ihrer Gabe und in ihren Glaskugeln und den "Rückführungen", die sie auch noch durchführte - wie ich erfuhr. Vielleicht musste ich nicht nur mich selber, sondern auch Claudio vor ihr retten. Die anderen "Witwen" hatte sie bereits eingesackt und jede wartete sehnsüchtig auf "ihren" Wochentag, an dem Claudio sie heimsuchte.

Maria und ich hatten niemals das beste Verhältnis gehabt, aber wir hatten etwas Wichtiges gemeinsam: Wir liebten Claudio. Gut, ich liebte ihn nur zu seinen Lebzeiten und nun verschwand meine Liebe. Es war eben bei mir keine Liebe über den Tod hinaus geworden, aber ich konnte mich an viele schöne Erlebnisse zu seinen Lebzeiten erinnern. Und die sollte er mir nicht nach seinem Leben zerstören: Inzwischen waren es nicht mehr nur Düfte, es gab Berührungen und leise Lieder, Lieder, die wir beide gemocht hatten - ich mochte sie nun nicht mehr, aber sie erfüllten meine Räume an diesen verdammten Freitagen.

Maria ihrerseits hatte niemals mehr etwas wahrgenommen - außer dem Duft von Zitronen an seinem Grab.  Und es ist sicherlich so, dass man sich eine einmalige Sache nur einbilden kann, obwohl sie nicht vorhanden ist. Leider war es bei mir weder einmalig noch nicht vorhanden, es war eine Tatsache.

Sehr intensiv hörte sie meinen sensibel vorgetragenen Schilderungen über Claudio und meine Erlebnisse mit ihm zu, und sie begriff sogleich, dass es sich bei allen Begebenheiten um Dinge handelte, die nach seinem Tod passiert waren. Sie nahm meine Hand und streichelte sie - und es war das erste mal, dass sie derartig zärtlich zu mir war.

"Ich muss weiter leben, ohne Claudio", flehte ich sie an, als könne nur sie mir noch helfen. Aber genau das hoffte ich. Zwar wusste ich nicht, wie sie etwas daran ändern könnte, aber ich sah sie auch erstmals nicht mehr als konkurrierende Frau auf dem Schwiegermutter-Podest, sondern vor allem als Claudios liebende und trauernde Mutter.

"Mein armer Junge", meinte sie, "er sollte seine Ruhe finden." Dann zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft, als könne sie damit die Geister vertreiben und auch dem Geist endlich Ruhe verschaffen.

Die Polizei schellte mich um ein Uhr nachts aus dem Bett. Zwei Beamte standen vor meiner Tür, die ich verschlafen geöffnet hatte. Sie hatten beide die Hände gefaltet, als gelte es, sich von innen nach außen dem Anlass entsprechend zu verhalten.

"Sind sie mit Frau Maria Marsiglia verwandt", fragte der eine von beiden nach einer ihm angemessen erscheinenden Pause.

Ich nickte. Und etwas in mir erklärte sich sofort bereit, zu glauben, dass nun alles gut werden würde ... was immer mir die Polizisten auch mitzuteilen hatten. Vielleicht lächelte ich sogar ein wenig, denn der andere erklärte nun mit einer entschieden weniger traurigen Attitüde:

"Ihre Schwiegermutter ist vor drei Stunden auf einer Landstraße gegen einen Baum gefahren. Sie war sofort tot."

Ein paar Tage später standen Marias fünf Schwiegertöchter an ihrem Grab.

Und seit dem Tag ihrer Beerdigung war der Spuk vorbei: Claudio kam nie wieder. Und ich konnte endlich anfangen, wie eine normale Ehefrau um ihn zu trauern, um eines Tages auch diese Trauer zu überwinden.

Ende
Copyright Silvia Gehrmann

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen