Freitag, 7. August 2015

7. August 2015 - Stille Stunden - "Die Flucht"



Die Flucht

Es dauerte lange, ehe der Zweite Weltkrieg auch Ostpreußen mit voller Wucht erwischte und unter vielen, vielen anderen auch eine Familien-Prinzessin aus ihrem Dornröschen-Schlaf weckte: Inmitten der liebevollen Eltern und der drei älteren Brüder hatte sie in der Tat geglaubt, das Leben gehe ewig in rosarot und positiv verheißungsvoll weiter.

Doch inzwischen waren sowohl der Vater als auch die Brüder irgendwo in diesen Kriegswirren unterwegs, und Christel war allein mit ihrer Mutter. Und dann geschah das Unvorstellbare: Sie musste gemeinsam mit ihrer Mutter die Heimat verlassen. Sie flohen aus Allenstein in Richtung Ostsee. Welche Dramen sich auf dem beschwerlichen Weg abgespielt haben mögen? Sie hat nicht darüber gesprochen, auch später nicht. Oder war es vielleicht eher so, dass ihr niemand zuhören wollte?

Eigentlich hatten sie gehofft, die Wilhelm Gustloff zu erreichen, um zu flüchten. Doch zum Glück haben sie es nicht geschafft, denn dieses eigentlich als Kreuzfahrtschiff konzipierte Schiff wurde am 30. Januar 1945 versenkt. Seltsamerweise spielte in Christels Leben später ein anderer 30. Januar ebenfalls eine große Rolle - wenn auch dieser Tag für sie viel mehr Unglück beinhaltete als es der Glückstag bedeutete, das Schiff nicht erreicht zu haben. Viele, viele andere Menschen hatten damals nicht so viel Glück. Mehr als 9.000 Menschen kamen ums Leben.

Irgendwann strandeten Mutter und Tochter in Dänemark und kamen in ein Lager, in dem sich hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern und alte Menschen befanden.

Christel, die noch nichts von der Härte des Lebens kennen gelernt hatte, traf es hier nachhaltig für ihr ganzes Leben. Auch über diese Zeit hat sie nur Bruchstücke erzählt: Die Dänen waren nicht erfreut über den Flüchtlingsstrom, und sie behandelten die Schutzsuchenden nicht gut. Es gab nicht genug und wenn überhaupt nur Verschmutztes zu essen - um es mal vorsichtig auszudrücken. Typhus war für viele Flüchtlinge die Folge.

Christels Mutter starb im Lager an Typhus, sie selber erkrankte schwer daran - und konnte der geliebten Mama in ihren letzten Stunden nicht beistehen. Erst Tage später erfuhr sie überhaupt vom Tod der Mutter. Man befand es nicht für nötig, sich übermäßig menschlich zu verhalten von Seiten der Lagerleitung.

Christel blieb auf Jahrzehnte Dauerausscheiderin von Typhus-Erregern. Aber sie überlebte zumindest.

Und gelangte viel später zu Verwandten nach Bochum. Und von dort aus dann nach Dortmund.

Will man es philosophisch betrachten, so stand während Christels gesamter Flucht und ihrem Leidensweg - auch mein Schicksal, überhaupt geboren zu werden, auf der Kippe. Denn sie war meine Mutter.

Und erst in Dortmund fand sie bei meinem Vater viel später ihre neue Heimat. - und wurde von ihm ebenso vergöttert wie von den Eltern und Brüdern. Doch man hat immer gespürt, dass ihr etwas fehlte. Manchmal hat sie es in der Wut auf die Dänen kompensiert: Sie hat über Jahrzehnte keine dänischen Produkte gekauft.

Sie war dennoch eine humorvolle Frau, wenn auch mit einer zu großen Portion Ironie, die Kinder noch nicht so wirklich verstehen und wollen.

Ich kann dankbar sein, dass es überhaupt die Möglichkeit einer Flucht für sie gegeben hat, dass sie überhaupt irgendwo aufgenommen wurde - und ich habe eine Ahnung davon, was Flucht aus einem Menschen machen kann, wie sehr sie ihn prägen kann.

Mein Bruder wäre ihr sicher auch dankbar. Aber er ist an einem anderen 30. Januar bei einem Hotelbrand gestorben.

Guten Tag, Gruß Biene

2 Kommentare:

  1. Hallo liebe Silvia, ja die Fluchten und das alles scheint so lange her...
    Auch meine Mutter mußte als 15-jährige mit vier jüngeren Geschwistern im Schlepptau, im Mai 45 von Rostock nach irgendwo in Schleswig Holstein (Grobe Angabe Bad Segeberg) fliehen.

    Sie hatten 2 Laib Brot dabei und haben vier Wochen gebraucht, um sich durch zu schlagen. Auch meine Mutter hatte dann Thyphus und lag 6 Monate in einem riesigen Sterbesaal mit alten Frauen - natürlich allein und unbegleitet.

    Meine Mutter hat niemals verarbeitet, was sie erlebte, war seit frühstem Erwachsenenalter Alkoholikerin, wie ihre 6 Geschwister. Alle trotzdem resepektable Fassaden gewahrt, gebildete Menschen, gutsituiert, aber innen drin die Hölle.

    Mich hat das Thema deutsche Geschichte, speziell diese Zeit, speziell die Zeitzeugenarbeit niemals losgelassen, auch als ich beruflich wegen der Kinder längst andere Wege gehen mußte.
    Inzwischen weiß ich, dass dieses Thema ein persönliches ist und dass es mich wohl niemals kalt lassen wird, dass ich niemas genug darüber hören und lesen kann.
    Das muss endlich erzählt und gehört werden. Jedenfalls von mir und jedem dem es genauso geht.
    Vielen Dank für deine Erinnerung. (Und dann denke ich auch immer wieder an die heutigen verzweifelten Flüchtlinge..)
    Liebe Grüße Susi

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    1. Liebe Susi - ich habe es für die heutigen Flüchtlinge geschrieben. Und ich denke, das liest man auch heraus. Die Geschichte meiner und deiner Mutter sind eben keine Einzelschicksale, viele Familien haben von solchen und ähnlichen Geschichten zu berichten. - Und wenn man glaubt, es sei nicht mehr aktuell, holt die Gegenwart uns ein.

      Liebe Grüße, Silvia

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