Samstag, 26. Dezember 2015

26. Dezember 2015 - Geschichten: Adrian, Jonas und Bonbon - 2. und letzter Teil



Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann
2. und letzter Teil


Adrian, Jonas und Bonbon

In der folgenden Zeit traf Adrian den süßen Hund und den kleinen, und wie er schnell bemerkte, blitzgescheiten Jungen häufig wieder. Am Anfang passierte es, ohne dass sie sich verabredeten. Später wartete Jonas auf seinen neuen Freund an einer gewissen Stelle im Wald, die beide als besonders schön empfanden.

In der Zwischenzeit befreite sich Adrian von allen alten Möbeln, in denen seine Mutter sich so wohl gefühlt hatte - die ihn aber mehr und mehr erdrückten und sogar Atemnot verursachten. Eine neue Leichtigkeit sollte in sein Leben - und dazu gehörten auch helle und freundliche Gegenstände. Je mehr er durch Neukauf ersetzen konnte, um so leichter fühlte er sich. 51 Jahre wanderten auf den Sperrmüll - und es konnte nur besser werden.

Ganz nebenbei verlor er nach und nach sein Selbstmitleid. Es war nicht allein die Schuld seiner Mutter, dass aus ihm ein lebensuntüchtiger Mann geworden war - er hätte selber etwas für sich tun müssen. Und das Versäumte wollte er nun nachholen.

Die Freundschaft mit Jonas war ein erster Schritt. Gut, Jonas war ein kleiner Junge, aber auch Adrian musste den ehemals kleinen Jungen in sich selber erst einmal entdecken, bevor er wie ein Mann leben konnte. Insofern war diese Freundschaft eine große Bereicherung und brachte ihm Erfahrungen, die er nie hatte machen dürfen. Selbst die Begegnung mit Bonbon verhalf ihm zu der Erkenntnis, dass er immer nur geglaubt hatte, Hunde und andere Tiere nicht zu mögen, weil er kritiklos die Ansichten seiner Mutter übernommen hatte. Und dies in jeglicher Hinsicht. Nun warf er sie über Bord, fragte sich hier und da, was sie zu diesem oder jenem gesagt hätte - und dachte genau gegenteilig. Denn nur das Gegenteil von den Meinungen seiner Mutter - konnte richtig sein. So weit war er nun schon.

Immer nach vorn sehen, nie zurück - war Jonas häufige Aussage. Und Adrian war auf dem besten Weg dorthin.

Aber Adrian war auch ein Mann. Und als solcher bemerkte er einiges nicht, das einer Frau wohl nicht entgangen wäre: Jonas trug immer das gleiche T-Shirt und die gleiche Hose. Erst als es Oktober und etwas kälter wurde, fiel dies auch Adrian auf. Sollte er den Jungen mal dezent nach seinem Elternhaus fragen?

Aber einen verwahrlosten und unglücklichen Eindruck machte Jonas überhaupt nicht auf ihn. Er lachte viel und ärgerte ihn manchmal auf kindliche Art. Auch Bonbon sah aus wie ein rundum zufriedener Hund.

Adrian traute sich nicht, dem Kind etwas zum Anziehen zu kaufen - obwohl er genau dies gern gemacht hätte. Andererseits sah er nicht, dass Jonas fror. Er war auch bei größerer Kälte die glückliche Frohnatur und ausgelassen wie immer.

Trotzdem fragte Adrian sich, ob der arme Kerl ein wirklich armer war und seine Eltern sich kaum um ihn kümmerten. Oder ob er einfach nur ziemlich abgehärtet gegen Kälte und uninteressiert an neuen Kleidungsstücken war? Er sah ein, dass er noch viel souveräner werden musste, um in solch einer Situation angemessen, aber dezent, eingreifen zu können.

Es war der 24. Dezember, und es schneite. Adrian hatte zu Hause auf einen Weihnachtsbaum verzichtet - einfach, weil es seiner Mutter nicht gefallen hätte, ohne Baum das Fest der Liebe zu begehen. Hätte sie nur mehr Liebe und weniger Bäume zu Weihnachten gehabt, die Reihenfolge hätte gestimmt.

Nun war die Gelegenheit, Jonas etwas zu schenken. Er hatte ein große Tüte gepackt, in der viele Süßigkeiten und ein paar dicke Kleidungsstücke verstaut waren. Tagelang war er dafür in der Stadt herum gelaufen, da er ja ungeübt war, für ein Kind etwas einzukaufen. Mit der Hilfe einiger Verkäuferinnen hatte er eine stattliche Auswahl zusammen gebracht.

Aber Jonas war nicht wie sonst an der üblichen Stelle im Wald und wartete auf ihn. Nicht einmal Bonbon hörte er bellen, wie er es sonst tat, sobald Adrian sich näherte. Es war ein freudiges, erwartungsfrohes Bellen. Das ihm nun fehlte.

Adrian wartete eine Weile und ging weiter, als von Jonas immer noch nichts zu sehen und von Bonbon nichts zu hören war. Er lief immer schneller, und Verzweiflung machte sich breit: Dieses Kind und dieser Hund hatten sein Leben bereichert. Und nun? Wo waren die beiden?

Nach einer Stunde erreichte er eine Bank, auf der er sich nieder ließ. Er wird mit seinen Eltern Heiligabend feiern, kam ihm plötzlich in den Sinn, sie werden ihn heute nicht allein spazieren gehen lassen wollen.

Und - wenn es doch anders war? Er den Jungen und Bonbon nie mehr sehen würde?

Das wäre schlimmer für ihn als der Tod seiner Mutter. Dies gestand er sich schonungslos und mit seiner neuen Sicht aller Dinge ein.

Er bemerkte die Frau, die sich der Bank näherte erst, als sie bereits neben ihm Platz nahm. Sie sah ihn nicht an, sondern packte einen Blumenstrauß aus. Dann erhob sie sich, ging ein paar Meter zur Seite und legte den Blumenstrauß vor einen Baum. Dabei starrte sie auf den Baum.

Adrian wunderte sich und stand ebenfalls auf. Er war nicht mehr derselbe Mann von vor ein paar Monaten, der sich Fremden niemals genähert hätte.

Warum legte die Frau Blumen im Wald ab? Und warum starrte sie auf den Baum?

Er trat neben sie und folgte ihrem Blick auf den Baum. Dort waren einige Metall-Schildchen mit Inschriften angebracht. Und sie ließ das Schild mit der Inschrift:

Peter, Jonas und Bonbon

nicht aus den Augen. Peter, Jonas und Bonbon? Adrian wurde kreidebleich. Was bedeutete dies?

Ohne ihn anzusehen, sprach die Frau nun zu ihm: "Peter war mein Mann, Jonas mein Sohn und Bonbon sein geliebter Hund. Sie sind alle drei vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und sie liegen hier in diesem Friedwald."

Sie sprachen noch viele Stunden miteinander, und es wurde der schönste Heiligabend seines Lebens. Die Frau, die Annette hieß und um ihre ganze Familie trauerte - und der Mann, der Adrian hieß, und auf dem besten Weg war, sich selber anzunehmen und sich endlich kennen lernen durfte.

Ende

Copyright Silvia Gehrmann





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