Donnerstag, 10. Dezember 2015

10. Dezember 2015 - Adventskalender 2015 - 10. Türchen - Schon wieder Weihnachten

Schon wieder Weihnachten

Carla sah sich in der verzwickten Lage, nach einem langen, stressigen Jahr nun auch noch die potenziert anstrengende Zeit des Dezembers mit Würde, Anstand und ohne Nervenzusammenbrüche hinter sich zu bringen. Sie bezweifelte, dass sie das noch einmal schaffen würde ...

Mutter von drei Kindern, von denen eigentlich nur das erste ihr Wunschkind war, Ehefrau, halbtags Apothekerin und als stetigen Anhang Vater und Stiefmutter sowie Schwiegereltern im Tross. Das kostete nicht nur Nerven, das kostete sie den Rest an Lebensfreude, der ihr eigentlich bleiben sollte.

Sie liebte ihre Kinder ... aber: Sie konnte diese von ihr selbst verzogenen Gören langsam, aber sicher nicht mehr leiden.

Sie liebte ihren Ehemann ... aber eher mit dem Rest einer Erinnerung an einmal schöne Zeiten.

Von ihren Schwiegereltern und ihrer Stiefmutter gar nicht zu reden. Nervten sie schon das ganze Jahr über, übertrafen sie sich in der Weihnachtszeit noch einmal mit voller Wucht. Es wurde geplant und angeordnet, ausgesucht und verworfen - und alles über Carlas Kopf hinweg.

Auch ihr Ehemann stellte sie im Dezember voll in seine Dienste: Da mussten wichtige Kunden bewirtet werden, und das durfte keine Catering-Firma übernehmen, denn Carla war die beste Köchin, die er kannte.

Wie oft war ihr in den vergangenen Jahren eigentlich der Gedanke gekommen, mal eine kleine Dosis hochgiftiger Substanz aus der Apotheke mitzunehmen, um sie all den Menschen, die über ihr Leben wachten, in die Suppe zu streuen? Natürlich hatte sie das nicht gemacht ... vielleicht aber auch nur noch nicht.

Während sie die Kinder zu drei verschiedenen Orten kutschierte, damit diese ihren Hobbies nachgehen konnten, rief bereits ihre Stiefmutter an und beklagte die Auswahl des diesjährigen Heiligabend-Menüs. Das müsse auf dem Mist von Carlas Schwiegermutter gewachsen sein.

Ja, es kam noch hinzu, dass sich Stiefmutter und Schwiegermutter spinnefeind waren und sich gern an Heiligabend nach drei Eierlikören die Augen auskratzten. Beim vierten Eierlikör schworen sie regelmäßig, nie wieder miteinander zu reden.

Wenn sie es nur tun würden, dachte Carla jedesmal, und wenn sie auch mit ihr nicht mehr sprechen würden ...

Sie wusste später nicht mehr, welcher Tropfen es war, aber sie vermutete dann immer, dass es jener Tropfen war, als ihr Mann meinte, sie solle auch mal was für sich tun und zum Friseur gehen.

Das war natürlich kein lieb gemeinter Wunsch, sondern die dringende Aufforderung, ihr Aussehen auf Vordermann zu bringen.

Vielleicht war es auch der Tropfen, als ihre älteste Tochter meinte, sie würde ab sofort keine Weihnachtslieder mehr unter dem Tannenbaum singen, weil sie mit 15 Jahren dafür zu alt war.

Carla kündigte schriftlich ihren Job in der Apotheke, denn niemand sollte glauben, ihr sei etwas zugestoßen. Zu einem Abschiedsbrief an die ganze Sippschaft konnte sie sich nicht durch ringen.

Heute lebt Carla allein in einem anderen Land, und an Weihnachten zieht sie sich einen alten Jogging-Anzug an und lässt eine Pizza liefern. Nur ganz selten hat sie ein schlechtes Gewissen, dass sie vor allem auch ihre Kinder verlassen hat.

Aber das vergeht sehr schnell wieder.

Einen schönen Adventstag wünscht Biene 


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