Montag, 14. Dezember 2015

14. Dezember 2015 - Adventskalender 2015 - 14. Türchen - Dr. W. und die falsche Diagnose



Dr. W. und die falsche Diagnose

Natürlich weiß ich noch seinen vollen Namen, aber ich möchte ihn hier nicht veröffentlichen - obwohl von seiner engen Familie niemand mehr lebt. Und ich erinnere mich noch an sein Gesicht, und besonders an die vielen Scherze, mit denen er mich erfreute - und auch ein bisschen blendete.

Aber ich war noch sehr jung, als ich seine Patientin war. Und wer als normal Sterblicher kann schon zwischen einem guten und einem nicht so guten Arzt unterscheiden? War er ein guter oder doch ein nicht so guter Arzt? Diese Frage will ich nicht beantworten.

Ich war 16 Jahre alt und schwer "erkältet". Natürlich dachte meine Mutter zunächst, ich wollte mich nur vor der Mathe-Arbeit drücken - aber nach einer Weile rief sie Dr. W. an, er möge vorbei kommen. Um selber zu seiner Praxis zu laufen, ging es mir nicht gut genug.

Wie immer versuchte er mich aufzumuntern, doch diesmal zog sein Scherz "ich hätte wohl mit einem Jungen zu lange an einer zugigen Ecke geknutscht" nicht. Dafür gab es von mir nur ein ganz, ganz müdes Lächeln.

Er diagnostizierte jedoch eine einfache Erkältung, verabreichte und verschrieb ein paar Medikamente und zog von dannen ...

Im Gottvertrauen auf die Richtigkeit vergingen zwei weitere Tage, in denen mein Zustand sich nicht verbesserte, sondern eher verschlechterte. Ich hatte hohes Fieber und war kaum ansprechbar.

Die folgenden ein bis zwei Wochen kenne ich daher nur aus Erzählungen.

Dr. W. kam wieder an mein Krankenbett - und erschrak. Ich musste unverzüglich ins Krankenhaus gebracht werden.

Die Diagnose war eine Lungenentzündung, und der Stationsarzt machte meinen Eltern keine große Hoffnung. Ich hätte eher eingeliefert werden müssen ...

Das ließ meinen Vater beinahe Amok in Richtung Dr. W. laufen.

Eine Woche lag ich auf der "Kippe", war unansprechbar. Meine Eltern haben mir erzählt, ich hätte in dieser Zeit nur ein einziges Mal reagiert: Da sagte meine einzige Zimmernachbarin zu einer Besucherin, dass vor ein paar Tagen auf der Station eine Frau von Mitte 30 an einer Lungenentzündung gestorben sei.

Ich hätte mich aufgebäumt und die Augen weit aufgerissen. - Vielleicht begann in diesem Moment mein Kampf gegen die Krankheit. Ich weiß es nicht.

Und ich überlebte - weil ich so jung und mein Herz stark genug war, sagten damals die Ärzte.

An Heiligabend durfte ich wieder nach Hause. Noch geschwächt, aber wieder in dieser Welt. Denn beinahe hätte ich meiner Familie ein ganz trauriges Weihnachten beschert.

Viel schlimmer traf es im Nachhinein meinen Hausarzt Dr. W. Erst starb seine Frau, dann nahm sich sein drogensüchtiger Sohn in seiner Praxis das Leben  - später er selber.  Es gab viele Gerüchte.

Heute denke ich mit Nachsicht an ihn: So ein lustiger Mensch, und dann war keine Freude hinter all dem Humor. Und ich bin auch sehr froh, dass ich es überlebt habe - nicht nur um des Lebens willen - sondern auch um die Möglichkeit, dass mein Vater seinen bösen Gedanken dem Arzt gegenüber vielleicht Taten hätte folgen lassen ... Wer weiß, zu was Menschen in ihrer Verzweiflung fähig sind?

Einen schönen Adventstag wünscht Biene

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen