Freitag, 25. Dezember 2015

25. Dezember 2015 - Geschichten - Adrian, Jonas und "Bonbon" - Teil 1

Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann
Teil 1



Adrian, Jonas und "Bonbon"

Adrian war ein Mann von einundfünfzig Jahren, der weder besonders attraktiv noch hässlich, sondern nur auf eine anerzogene Art unscheinbar war. Die Liebe einer Frau hatte er nie kennen gelernt, dafür jedoch, was Mutterliebe aus einem Mann machen konnte: Einen geduckten Kerl ohne eigene Ansichten und ohne jegliche Träume. Sein ganzes Leben hatte er den Wünschen, Bedürfnissen und Befehlen seiner Mutter Karoline untergeordnet. Sie hatte es schon, als er noch ein Kind war und auf Bäume klettern wollte verstanden, ihn von anderen Kindern fern zu halten. Sie hatte es verstanden, aufkeimende Liebesgefühle im Keim zu ersticken, als er heran wuchs.

Vor vier Wochen war Karoline gestorben. Und sie wurde im Kreise ihrer Bet-Schwestern, wie er den kleinen Radius ihrer Bekannten stets mit einem Anflug von Rest-Humor oder eher dem kargen Humor, den er besaß, nannte, zu Grabe getragen. Auf die ehrliche Art eines einst abhängigen Kindes und späteren Erwachsenen bemühte er sich um Trauer über den Verlust.

Doch Adrian empfand nur Erleichterung. Er hatte die uralten schweren Vorhänge zwei Tage nach der Trauerfeier von den Fenstern gerissen und dem Müll übereignet. Ihren Eierlikör goß er achtlos in den Ausguss und er wollte nie wieder in seinem Leben solch ein Gesöff trinken. Dann kaufte er sich eine Flasche Whisky, die Karoline niemals in ihrem Hause geduldet hätte, und betrank sich: Zum ersten Mal in seinem Leben, denn nie zuvor hätte er sich getraut, sich heimlich mit Alkohol vorübergehend aus der Realität zu verabschieden.

Er packte ein paar Säcke mit Kleidungsstücken für das Rote Kreuz - obwohl ihn der Geruch von Mottenkugeln beinahe davon abgehalten hätte, diese Sachen weiter zu geben. Aber seine Mutter hatte auf Ordnung stets viel Wert gelegt, und die Sachen waren gut erhalten. Sie sollten anderen Menschen Freude machen - Freude, die sie zu ihren Lebzeiten nur wenigen Menschen zukommen ließ. Hartherzig war sie durch die einundfünfzig Jahre gegangen, die er an ihrer Seite war - und vermutlich auch in den zweiundzwanzig Jahren zuvor.

Adrian bemühte sich, mehr zu empfinden als pure Erleichterung, aber es gelang ihm nicht. Er war einerseits wütend, dass sie ihn verlassen hatte und andererseits kämpfte er gegen ihre Hinterlassenschaft an ihn an: Sie hatte aus ihm einen regelrechten Waschlappen gemacht, der nun auch noch Angst vor der Zukunft ohne ihre richtungsweisenden Ansprachen hatte.

Schon in der Schule wurde er ihretwegen gemobbt - lange, bevor man dieses Wort benutzte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass er der Außenseiter schlechthin war - schon immer, und vielleicht noch lange über ihren Tod hinaus. Wenn es ganz schlecht lief, bis zu seinem eigenen Tod.

Recht orientierungslos suchte er nach einem Sinn, den er in seinem restlichen Leben finden könnte. Er dachte an eine Partner-Vermittlung oder an Vereine, denen er beitreten könnte. Doch weder wollte er eine Frau auf solchen Wegen finden noch war er der Typ für irgendwelche Clubs, womöglich sogar eines Fußball-Clubs oder der von Briefmarkensammlern. Selbstkritisch stellte Adrian fest, dass er in etwa der weltfremdeste Mensch war, den er sich selber vorstellen konnte. Außerdem war er ziemlich interessenlos, denn sein vorheriges Leben hatte sich einzig um seine Mutter gedreht.

Vielleicht sollte er sich einen Hund anschaffen - das würde seine Mutter noch posthum verärgern, denn sie hasste Tiere. Aber auch er hatte keinen wirklichen Bezug zu ihnen.

Immerhin kam er durch diese Idee auf den Wald. Wo gingen die Leute mit ihren Hunden gern spazieren und atmeten durch? Im Wald! Vielleicht würde auch ihm dies gut tun und auf Ideen bringen, wie sie nur die frische Luft verursachen konnte? Er wollte es probieren.

Ohne große Hoffnung, aber mit minimalem Tatendrang fuhr er mit einem Bus zum Wald. Ein Auto besaß er nicht, weil seine Mutter dies für überflüssigen Luxus gehalten hatte. Und wieder kam ihm in den Sinn, dass er überhaupt kein eigenes Leben geführt hatte.

Am Waldeingang orientierte er sich an Hinweis-Schildern und ging den Weg, den sie hier "A 1" genannt hatten, entlang. Hier und dort sah er Spaziergänger, Jogger und Hunde-Leute. Und er sah viele Buchen und ein paar Tannen-Abschnitte. Natürlich war ihm bewusst, dass er hier nicht das finden würde, was er vielleicht suchte - und nicht einmal benennen konnte. Auf einer Bank machte er schließlich Rast und überdachte sein Leben:

Das war geprägt von Selbstmitleid. Völlig unerwartet kam ihm das in den Sinn. Und es gefiel ihm überhaupt nicht. Lieber wäre er ein mutiger Held gewesen, der sich den Kämpfen des Lebens selbstsicher stellt, als diese arme Seele ... die sie aus ihm gemacht hatte.

Gedankenverloren spürte er plötzlich etwas Feuchtes an seiner schlaff herunter hängenden rechten Hand. Er blickte erschrocken auf, denn er hatte sich derart in tiefen dunklen Gedanken verloren, dass er seine Umwelt für einen Moment vergessen hatte.

Ein Hund rieb seine Nase an seiner rechten Hand. Ein mittelgroßer, freundlich aussehender Mischling unbekannter Abstammung. Aber was wusste er schon über Hunde?

Im nächsten Moment sprang ein Junge auf ihn zu und grinste ihn breit an. "Sorry", sagte das vielleicht zehn Jahre alte Kerlchen, "Bonbon ist ein Freund aller Menschen."

Aller Menschen, dachte Adrian - auch von mir? Bezog dieses "alle" in der Tat auch ihn ein?

"Lustig, der Name Bonbon", sagte Adrian, "und wie heißt du?"

Er, der auch mit Kindern nicht wirklich etwas anfangen konnte, hatte plötzlich das Bedürfnis, mit diesem Jungen zu reden.

"Ich bin Jonas", antwortete der Junge. Und lachte und zog seinen Hund Bonbon ein Stück an die Seite.

Fortsetzung folgt:
Copyright Silvia Gehrmann



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