Samstag, 2. April 2022

2. April 2022 - Ferdinand Schäfer


Ferdinand Schäfer

Ich war ganz klein, und er erschien mir trotz seiner gebückten Haltung riesengroß. Gerade konnte ich auf meinen Beinchen laufen, während ihm das Laufen bereits schwerfiel. In meiner Erinnerung sehe ich ihn ausschließlich in seinem Garten aus Nutz- und Zierpflanzen stehen, eine Harke in der Hand, die Haltung gebückt, aber voller Freude über die Natur.

Staunend stand ich manchmal vor ihm, als wäre er ein ganz besonderes Wesen aus einer mir noch unbekannten Welt. Niemand, absolut niemand, den ich kannte, hatte so viele Falten und sah aus meiner Kinder-Sicht so alt aus wie er. Dabei besaß er Güte in seinem Gesicht, obwohl ich nicht weiß oder nicht mehr weiß, ob es wirkliche Güte war oder nur den Anschein hatte.

Er sprach nicht viel. Während ich mit meiner Oma zu ihrem Garten ging, wechselte sie ein paar Worte mit ihm, dann trennten sich ihre Wege. Er war kein Mann vieler Worte - davon gibt es so einige in meiner Familie, die männliche Linie betreffend.

Ich sollte ihn Onkel Ferdinand nennen, aber es gab nicht viele Gelegenheiten, ihn so persönlich anzusprechen. Nachdem meine Oma mir von ihrem "Lieben Gott" erzählt hatte, war ich jedoch sicher, dass Ferdinand dieses Wesen sein musste. Von wegen ... Gott kann man nicht sehen.

Ferdinand war der ältere Bruder meines mir unbekannten Großvaters, der bereits mit 47 Jahren und lange vor meiner Geburt gestorben war. Ferdinand hatte fünf Kinder, davon waren vier Jungen und eines ein Mädchen. Seine Schwester Jo hatte einen Sohn. Meine Oma und ihr Silverius hatten drei Söhne. Offenbar lag es in der Familie, dass mehr Söhne als Töchter geboren wurden. Vielleicht war ich auch als Mädchen aus diesem Grund der Liebling meiner Oma ...

Ferdinands Frau hieß Lilli. Für mich Tante Lilli. Sie trafen wir nie im Garten an, sie hatte genug im Haus zu tun.

Und irgendwann waren beide nicht mehr da ... wann und woran sie gestorben waren, weiß ich nicht - oder nicht mehr. Allerdings hat man mich als Kind von Todesfällen in der Familie und den Berichten darüber ferngehalten. Ich sollte mich nicht erschrecken. Für mich sollte es nur Gänseblümchen regnen und immer die Sonne scheinen.

Es gibt ein Foto von Ferdinand, das ich kenne, und auf diesem steht er auf seinen Spaten gestützt in seinem geliebten Garten. Ich finde es nicht mehr, es ist in kein Album eingeklebt, sondern in einer Lose-Foto-Sammlung meiner Eltern.

Manchmal denke ich an ihn und seine Lilli, und ich wünschte, ich würde mich besser erinnern. Vielleicht sah er auch gar nicht so alt aus, sondern erschien mir nur in der Relation zu mir selber alt. Vielleicht hatte er auch nicht mehr Falten als jeder andere Mensch in seinem Alter. Es ist so ein Ding mit der

Erinnerung. Wie leicht kann sie einen täuschen. Nicht alles aus dem Schatz der Vergangenheit entspricht den tatsächlichen Wahrheiten. Trotzdem stimmt hoffentlich das Gesamt-Bild, das ich von ihm habe ... weil ich mich an viel mehr nicht erinnere. Das Wichtige ist jedoch, dass ich mich überhaupt an ihn (und seine Lilli) erinnere.


Guten Tag, Gruß Silvia 

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