Freitag, 16. Dezember 2016

16. Dezember 2016 - Mein Adventskalender - 16. Türchen - Die nicht nur traurige, wahre Geschichte von Linna


Linna ist die Frau links



Die nicht nur traurige, wahre Geschichte von Linna

Linna war die jüngste Schwester meiner Oma und das letzte Kind ihrer Eltern, und ob diese stolz auf ihre Tochter waren oder sie anderweitig berührt hat, ist mir leider nicht bekannt. Ich weiß nur, dass Linna ihr Leben lang mit inniger Liebe an meiner Oma gehangen hat.

Und auf der Beerdigung meiner Oma waren Linna und ich die wohl traurigsten Geschöpfe auf dieser Welt, was uns bei all dem, was uns trennte, zumindest in diesen Momenten vereinte.

Linna war fast gehörlos. Und so lernte sie auch nur sehr undeutlich sprechen. Einzig meine Oma verstand immer, was ihre Schwester sagte und sagte schon mal deutlich in Linnas Richtung "Jetzt bist du aber ruhig".

Wie es damals vermutlich mit vielen gehörlosen Kindern geschah, ging man quasi davon aus, dass sie nicht sehr intelligent waren. Und so wurde auch Linna in keiner Weise gefördert. Natürlich ging sie zur Schule, doch wie es ihr dort erging, weiß ich leider auch nicht.

Viel gelernt haben konnte sie nicht, was jedoch nicht gegen eine vielleicht dennoch anwesende Intelligenz sprach. Man kannte noch keine Förderprogramme, und so war Linna mehr oder weniger auf sich allein gestellt.

Als junge Frau begann sie, in einem Lebensmittel-Geschäft zu arbeiten. Dort blieb sie übrigens bis zu ihrem Lebensende, weit über die Rente hinaus.

Und dort war neben meiner Oma ihre zweite Familie, denn die Menschen behandelten die fast völlig gehörlose Linna trotz mancher Launen, die sie öfter an den Tag legte, wie einen Menschen.

Was nicht alle taten.

Als Kind - Linna war bereits eine alte Frau - hörte ich erstmals den so dummen Satz: "Die geht ungeöffnet zurück."

Natürlich war auch ich oft ungeduldig dieser Schwester meiner Oma gegenüber, denn wenn sie einen dreimal von mir wiederholten Satz noch immer nicht verstanden hatte, gab ich genervt auf. Ich sehe es gerade vor mir, wie Linna dann leise in die Luft pfiff, als ginge ihr meine Genervtheit sonst wo vorbei.

Kinder können ziemlich ungerecht sein, aber Erwachsene in der damaligen Zeit waren auch nicht viel besser. Behinderungen wurden nicht als etwas Besonderes dargestellt, sondern als etwas,

das man versteckte.

Aber Linna versteckte sich nicht. Auf ihre Weise und im Rückblick gesehen, wurde sie einzig und allein in die falsche Zeit hineingeboren und war dennoch ziemlich emanzipiert.

Natürlich - ja, das natürlich muss ich wohl so sagen - hat sie niemals geheiratet. Aber sie hatte ihre große und ihr sehr zugeneigte Familie, die Linna als ein Naturereignis hinnahm, und sie wurde oft und gerne eingeladen.

Denn eine dankbare Frau war sie auch, und sie hatte es gerne, wenn sie im Mittelpunkt stand.

Linna starb in den 1990er Jahren. An das genaue Jahr erinnere ich mich nicht mehr. Zu ihrer Beerdigung bin ich auch nicht gegangen,

nicht, weil es Linnas Beerdigung war,

sondern weil ich mich generell gern um dieses Am-Grab-Stehen drücke. Gräber bedeuten mir einfach nichts. Dort finde ich auch keinen Zugang zu meinen Verstorbenen. Den finde ich überall sonst, zum Beispiel in

diesem Moment, in dem ich dieses schreibe.
Das Grab meiner Oma

Einen schönen Adventstag wünscht Silvia

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