Samstag, 24. September 2016

24. September 2016 - Geschichten: "Am Rand!" - Teil 1

Eine Kurzgeschichte
von Silvia Gehrmann

Teil 1

Am Rand

Robert sah abgerissen aus und stank nach einer langen Abwesenheit von Wasser und Seife, roch nach Alkohol und dem Todes-Hunger in seinen manchmal noch lebendig aufblitzenden Augen. Diese Augen erzählten von einem Wissen, das nicht viele Menschen hatten,

doch was nützte es ihm heute noch? Er lebte auf der Straße, schlief in Hauseingängen oder auf Parkbänken und ließ einen Tag so nutzlos verstreichen wie den anderen.

Am meisten zu schaffen machte ihm die Dummheit der meisten seiner "Kumpel", die wie er ihr Zuhause mit "Asphalt" angaben. An solchen Tagen trank er mehr als gewöhnlich, versackte in Selbstmitleid und beklagt die deutsche Justiz, die Umwelt und jeden, der sich nicht rechtzeitig aus seinem Gesichtsfeld bewegte. Dann konnte er, der einst feinfühlige Mensch, auch schon mal andere böse anpöbeln.

Manchmal wäre er liebend gern noch ein Junkie geworden, damit die Aussicht auf einen Goldenen Schuss bestanden hätte, aber irgendetwas hielt ihn von den Drogen fern. Vielleicht ein Rest Erinnerung an sein früheres Leben oder doch einfach nur die Angst,

dass man nie so tief fallen konnte, dass es nicht auch noch eine Stufe tiefer ginge.

Seit zwanzig Jahren lebte er auf den Straßen und in den Parks. Damals war alles schief gegangen, was irgendwie schief gehen konnte. Damals hatte ihn nicht nur das Glück verlassen, sondern auch sein starker Charakter hatte ihn sang- und klanglos im Stich gelassen.

Nun sahen die Menschen seit zwanzig Jahren auf ihn herab und sahen ihn an wie den Abschaum der Gesellschaft - genau so wie er es damals getan hätte, falls er diese "Penner" überhaupt bemerkt hätte.

Gegen das Wort "Penner" hatte er nichts, denn für sein seit zwanzig Jahren geführtes Leben traf es genau den Kern: Er verschlief das Leben, er soff sich in den Schlaf, er soff sich durch die Tage und Jahre und bekam nur noch manchmal etwas mit von dem, an dem sich andere Menschen erfreuten.

Mittlerweile war es Herbst geworden. Nicht nur in seinem Leben, sondern auch in der Natur. Er war nun fünfundsechzig Jahre alt und der Herbst war der Vorbote des Winters. Und Winter konnten hart sein für Leute wie ihn.

Leute, die sich an ihren erbärmlichen Leben ebenso klammerten wie Leute, die sich auf Dinge freuten, die Robert von früher noch erinnerte.

Sein Weg an jenem 13. Oktober führte ihn von der Schlafstelle in einem Bürohaus-Eingang in den nahe gelegenen Park. Dort trafen sich all seine "Kumpel" - und er wusste, dass irgendwann wieder ein paar von ihnen in Streit geraten würden, die Polizei käme - und

so weiter und so weiter.

Heute setzte er sich fern von ihnen auf eine Bank. Er holte seine Schnapsflasche aus der ausgebeulten Hosentasche und sah sie an wie man einen bösen Feind ansieht. Genau so empfand Robert diesen Helfer durch die tristen Jahre, aber wer konnte schon ohne Helfer sein. Von Rettung jedoch sprach dieser Helfer kein Wort.

Plötzlich kam ein ziemlich junges Mädchen an seiner Bank vorbei, stolperte und stürzte auf das harte Pflaster des Weges.

Robert, sich der alten Zeiten erinnernd, eilte ihr sofort zu Hilfe. Er hob sie auf, und sie sah ihn freundlich lächelnd an.

Solch ein Lächeln hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen oder vielleicht auch nur nicht wahrgenommen. Heute war er noch nicht so betrunken wie sonst und er empfand so etwas wie Freude bei ihrem Anblick und ihrem Lächeln.

Er schleppte das Mädchen mit zu der Parkbank, auf der sie sich mit einem tiefen Seufzer nieder ließ.

"Hoffentlich ist nichts gebrochen?" fragte er leise. Sie rüttelte an ihren Gliedmaßen und meinte, dass wohl alles in Ordnung sei. Schmerzen habe sie nicht.

Schade, dachte er plötzlich, dann wird sie wohl gleich aufstehen und ihren Weg fortsetzen ...

Genau das tat das junge Mädchen jedoch nicht. Sie sah aus, als wolle sie sich mit ihm unterhalten.

"Ich müsste eigentlich zur Schule", erzählte sie, "aber wir schreiben heute eine Arbeit in Philosophie, und ehrlich gesagt, habe ich jede Menge Bammel davor." Wieder lächelte sie ihn an.

"Das musst du nicht", hörte er sich wie durch einen Nebelschleier sagen, "Philosophie ist so verdammt einfach und auch dann, wenn man gar nicht weiter weiß, sie hilft einem."

So ein Quatsch, dachte er gleichzeitig, guck dich mal selber an, dir hilft gar nichts mehr ...

Sie sah ihn interessiert an: "Ich heiße Paula." Sie reichte ihm sogar ihre Hand. Er nahm diesen Menschen-Gruß nur sehr zögernd wahr, bis er ihre schlanke Mädchenhand dennoch drückte.

"Ich bin Robert. Und ich lebe auf der Straße."

Eine Weile unterhielten sie sich über dieses und jenes, es war nichts Weltbewegendes dabei. Für Robert jedoch war es das erste vernünftige Gespräch seit vielen Jahren.

Am nächsten Tag saß er wieder auf genau dieser Bank. Sie hatte ihm Glück und vielleicht, ganz vielleicht Paula gebracht. Er wartete. Ohne Hoffnung, dass sie kommen würde.

Plötzlich stand Paula vor ihm.

Fortsetzung folgt

Copyright by Silvia Gehrmann

Guten Tag, Gruß Silvia

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