"Das kleine Kloster-Cafe Marienwinkel"
Vanessa
arbeitete als Escort-Girl, und genau das war es, was Christian Kopfschmerzen bereitete. Für ihn hatte von Anfang ihrer Beziehung an festgestanden, dass sie diesen "Job" sofort hinwarf, und es könnte Gras über ihre Vergangenheit wachsen.
Immerhin hatte er sie als seine Patientin kennen gelernt, was schon ein Unding für Ärzte sein sollte. Patienten waren eigentlich tabu. Gut, manchmal gab es solche menschlichen Zwischenfälle, die aus plötzlich erwachter Zuneigung entstanden ...
allerdings hatte eine Krankenschwester der Station herausgefunden, womit Vanessa ihr Geld verdiente. Seitdem machte dies die Runde, und es konnte durchaus ein Karriere-Killer für ihn werden.
Aber er war so hin und weg von diesem zauberhaften Wesen, dass er einerseits glaubte, über Berge springen zu können - und andererseits sicher war, Vanessa würde all ihre Gegner ebenfalls im Sturm erobern und auf ihre Seite ziehen.
Davon bemerkte er gerade gar nichts, als er die sichtlich gelangweilte Vanessa betrachtete, die nicht einmal in der Lage schien, ihre Langeweile zu verbergen. Er suchte nach einem Funken Lächeln in ihrem Gesicht, aber Vanessa würde eher demonstrativ gähnen als auch nur ein Lächeln zu versuchen.
Sie war sich ihrer eigenen Person ziemlich sicher, und sie war sich Christians Gefühle sicher. Er sollte ihr solche Plattheiten wie für ihre Begriffe sehr ausgedehnte Spaziergänge und Einkehrten in altmodische Cafes ersparen. Wenn er wirklich wollte, dass sie ihren Job aufgab, musste er sich viel, viel mehr anstrengen ...
Zwar sprach er bereits von Heirat, und eine ihrer Kolleginnen meinte dazu, dass sie diese Chance schnell ergreifen sollte, sich bis dahin ein bisschen zurücknehmen und unterordnen könnte, aber Vanessa war sich noch nicht sicher, ob sie seinen Antrag annehmen sollte.
Obwohl sie wusste, was er mit einer Heirat riskierte, tangierte sie das lediglich am äußersten Rand ...
Foto: S. B. |
Ach, was für ein Kreuz ist doch diese öde Familiensimpelei!
Oscar Wilde (1854 - 1900)
Heute wurde das Cafe für Gilbertas Begriffe recht voll. Die beiden Freundinnen samt ihren Hunden waren ebenso anwesend wie auch der Mann mit seiner für sie undurchschaubaren Freundin,
als ein Paar den Laden betrat. Gilberta erinnerte sich, sie hier schon mal gesehen zu haben. Zu ihrem Glück wählten sie den richtigen Tisch, sonst hätte Gilberta ihnen auf die Füße getreten.
Der Mann, 42 Jahre alt, hieß Oliver. Die Frau, 37 Jahre alt, hieß Adeline. Sie sahen aus, als hätten sie etwas Wichtiges zu besprechen, aber einen zufriedenen Eindruck machten sie auf Gilberta eher nicht. Eher sahen sie wie Flüchtende aus, die in dem Cafe Ruhe suchten. Zufriedene Gesichter kannte die Nonne - manchmal reichte schon ein gutes Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee, um Menschen zufrieden zu machen.
Mit dem Glück stand Gilberta auf unbekanntem Fuß. Sie wusste, was Glück vermutlich bedeutete, aber sie konnte es nie identifizieren noch empfinden.
Vielleicht ist einfach nur niemand glücklich, war ihr Fazit. Andererseits bedeutete Glück ein wohl zu hohes Empfinden für ihre eigene Gefühlswelt, zu dem sie keinen Zugang hatte. Sie wusste natürlich, was ihr Asperger-Syndrom bedeutete,
aber das Wissen ersetzte ihr keine emotionalen Kunstsprünge. Ihre Emotionen waren eben auf einem anderen Level als bei anderen Menschen.
Copyright Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt
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