Kurzgeschichte in 2 Teilen
1. Teil
Der alte Mann und (s)ein Hund
John
John war der Unsichtbare. Der unsichtbare Nachbar, der einstige unsichtbare Kollege, der Unsichtbare, wenn es in der Öffentlichkeit darum ging, als Erster in den Bus, die Bahn oder ins Kino zu gelangen. Das lag nicht an seinem Äußeren, denn unattraktiv war er nicht. Er war der leise Typ, einer, der mit Worten nicht umgehen konnte und das auch nicht wollte. John war derjenige, der stets an die Seite ging, sobald hinter ihm jemand drängelte, und der Mann, der sich niemals in seinem Leben in den Mittelpunkt gestellt hatte.
Das entsprach seiner Natur, und er fühlte sich durchaus wohl in seiner Haut. Seinen Nachbarn schenkte er beim Begegnen ein leichtes Kopfnicken, und alle waren der Überzeugung, er wolle mit niemandem Kontakt haben und sei arrogant. John wusste, wie die anderen ihn einschätzten, und es war ihm kein Bedürfnis, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Inzwischen war er 75 Jahre alt geworden, und von diesen vielen Jahren hatte er 50 in einer westdeutschen Großstadt verbracht - aber ursprünglich stammte er aus Ullapool in Schottland. Das ist ein kleiner Küstenort in den schottischen Highlands, den er nicht nur physisch vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte, sondern auch gefühlsmäßig. Nach dem Tod seiner Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, zog es ihn fort aus der Enge eines kleinen Ortes in einem wenig besiedelten Landstrich. Und er, der Mann so weniger Worte wie möglich,
entschied sich, in ein anderes Land zu übersiedeln, in dem er die Sprache erst erlernen musste. Sein Vater hatte ihm oft vom Ruhrgebiet erzählt, und da er nicht weiter würfeln mochte, aber es ihn dringend aus seiner Heimat wegzog , entschied er sich für die Großstadt Dortmund. Das hatte den kleinen Hintergrund, dass er, falls es ihn doch einmal nach heimatlichen Klängen überkam, dort britische Kasernen vorfinden würde ... er könnte in den dortigen britischen Siedlungen Kontakte knüpfen ...
John knüpfte jedoch niemals Kontakte zu seinen Landsleuten, und er wohnte von Anfang an eher weiter entfernt von den Kasernen als näher dran.
Die deutsche Sprache erlernte er mittels Kursen recht schnell. Offenbar war er sprachbegabt, wie er damals feststellen konnte.
Beruflich war er bis zu seiner Berentung als Schornsteinfeger tätig gewesen. Die Höhe vieler Häuser machte ihn weniger schwindelig als die ausschweifenden Worte seiner Mitmenschen.
Nach Feierabend und an den Wochenenden führte er ein zurückgezogenes, aber kein unglückliches Leben. Er war zufrieden mit seinem kleinen Leben - und Abwechslung sammelte er in der Natur. Er liebte es, Wälder zu durchstreifen und menschenleere Naturschönheiten zu durchwandern.
John war glücklich über den Frühling, den Sommer, den Herbst und auch dem Winter. Alle waren seine Jahreszeiten, sie waren seine Freunde.
Da er ein gutaussehender Mann gewesen war und zudem auch noch Schornsteinfeger, den jeder einmal anfassen wollte, wenn er ihn auf der Straße traf,
hatte es auch Frauen gegeben, die ihm offen ihr Interesse gezeigt hatten. Und das lag nicht nur an dem verbrieften Glück, das eine Berührung seiner schwarzen Kluft verhieß, sondern so einige weibliche Wesen waren im Laufe der Jahre ehrlich an John als Person interessiert gewesen.
Manchmal empfand er sich selbst als wunderlich, dass er so interessenlos gegenüber menschlicher Gesellschaft war. Vor Jahren hatte er daran gedacht, einen Psychologen aufzusuchen ... er hatte es schnell verworfen, denn mit einem Therapeuten hätte er viel zu viel reden müssen.
Im Grunde hätte er die eine oder andere Frau vielleicht gern einmal um sich herum gehabt ... aber nicht zum Interessensaustausch mittels Worten, sondern vielleicht zum wortlosen Spazierengehen und gemeinsamen stillen Genießen. Auch im Berufsleben beschränkte er sich auf die dringend nötigen Worte und mochte nicht über etwas Überflüssiges plänkeln.
Tief im Innern war er in etwa der schüchternste Mensch auf dieser Welt.
John wusste um seine mentale Schwäche und hatte sich damit arrangiert. Und jetzt mit 75 Jahren wollte er gewiss keine Änderung anstreben. Sollten ihn andere für arrogant halten ... dann ließen sie ihn zumindest in Ruhe und suchten keinen Kontakt.
Nur in manchen Nächten fragte John sich, wie viel Sinn es hatte, dass er auf dieser Welt lebte. Gut, sein Beruf war wichtig oder zumindest ebenso wichtig wie viele andere gewesen. Damit hatte er sogar hin und wieder den Leuten eine kleine Freude gemacht und ihre Berührungen stoisch "ertragen".
Aber wem in seinem Leben hatte er selber und freiwillig je Freude gebracht? Regelmäßig schob er solche Gedanken beiseite ... es war müßig, über sich selber nachzudenken, wenn man doch nicht bereit war, sich auch nur ein Stück weit zu ändern, sondern in ewig alten Mustern starr verweilen wollte.
Der alte Mann
Selbstmitleid war John genau so fremd wie das Hingewandtsein zu anderen Menschen. Seine größte Leidenschaft neben der Natur galt den Büchern: er liebte Abhandlungen über philosophische Themen ebenso wie clever konstruierte Kriminalromane oder auch Gedichtbände.
Manchmal stieg er in sein Auto, um in benachbarte Länder zu fahren. Dort war er dann genau der Einzelgänger, der er auch zu Hause war. Ebenso liebte er es, in guten Restaurants essen zu gehen. Wenn er dann allein an einem Tisch saß, kamen ihm beim Anblick all der anderen Besucher keine bedauernden Gefühle für sich selbst in den Sinn ... John war gern allein. Woran das lag, wusste er nicht einmal. Er war so, er hatte sich selber akzeptiert und schon lange hinterfragte er sich auch nicht mehr. Jedes anders geführte Leben wäre nicht seins gewesen ... so war er zumindest authentisch.
Liebe war ihm nie begegnet. Das konnte Zufall sein oder auch der Mangel an Gelegenheiten. Aber immerhin war er viel unterwegs, sah auch viele Menschen ... aus diesem Grund lag es eher nicht an einem Mangel an Gelegenheiten, sondern war tief in ihm selber verwurzelt.
Der alte Mann und (s)ein Hund - die Begegnung
In seiner unmittelbaren Nachbarschaft galt John, wie bereits erwähnt, als ein doch etwas seltsamer "Vogel", der sich niemals in kleine Pläuschchen verwickeln ließ. Er grüßte mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen und ging weiter. Man wusste dies, und man nahm ihn, wie er eben nun einmal war. Er störte schließlich niemanden, beschwerte sich niemals, wenn die Kinder zu laut waren oder eine Party länger dauerte, als es seiner Nachtruhe gut tat.
An einem Samstagnachmittag machte er seinen gewohnten Spaziergang durch den Park, der in der Nähe lag. Sein Tag war durchgetaktet: morgens fuhr er zu einem Wald, nachmittags besuchte er den "Rosen-Park".
An diesem Tag regnete es, aber John hatte seinen Regenhut aufgesetzt und fand es einfach nur schön, dass an Regentagen weniger Leute unterwegs waren als sonst. Er bewunderte die Rosen, die gerade mit ihrer üppigen Schönheit protzten. Sie erinnerten ihn an die Rosen von Ullapool, obwohl Rosen auf der ganzen Welt irgendwie ähnlich aussahen ... und tief in Gedanken versunken fragte er, ob er sich nicht doch noch einmal auf den Weg in seine alte Heimat machen sollte ...
als ihn etwas Feuchtes an der linken Hand anstupste. Er zog automatisch die Hand schützend an seinen Körper und blickte sich nach der Ursache dieser Berührung um ...
und neben ihm stand ein Mischlingshund, der ihn mit großen Augen ansah.
John schüttelte automatisch die von dem Hund zuvor berührte Hand und ging weiter.
Der Hund folgte ihm. Er folgte John eine volle Stunde lang, in der er seine Runden durch den Park drehte. Und nicht nur das, das Tier folgte ihm auch bis zu seiner Haustür ... John schloss diese dann rasch auf, schlüpfte schnell hindurch und schlug sie dem kleinen Hundekerl vor der Nase zu.
Am nächsten Tag hatte John den Hund längst vergessen, doch offenbar war es umgekehrt überhaupt nicht der Fall. John wollte morgens zu seinem Auto gehen, um zum etwas weiter entfernten Wald zu fahren, als der Hund ihn schwanzwedelnd vor der Haustür begrüßte.
"Was machst du denn hier?" fragte John. "Hast du kein Zuhause?" Natürlich war ihm klar, dass der Hund seine Worte nicht verstand, aber er fühlte sich geradezu herausgefordert, etwas zu sagen ... der Hund sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an,
aber John konnte das nicht erweichen.
Alle Tage wieder
Dieses Hunde-Spielchen dauerte fünf Tage: an jedem Tag stand der Hund vor Johns Haus, begleitete ihn durch den Park (hätte er es geschafft, er wäre wohl auch morgens hinter Johns Auto hergelaufen) und brachte ihn zurück nach Hause, um dann allein vor der Tür zurückgelassen zu werden. Offenbar hatte dieser Hund viel Geduld.
Als John nach fünf Hundebegleit-Tagen in seine Wohnung zurückkam, fiel ihm plötzlich ein, dass der kleine Kerl vielleicht Hunger haben könnte. Nun ja, er war nicht sein Hund. Und wenn er kein Herrchen oder Frauchen hatte, musste eben die öffentliche Hand dafür sorgen, dass er in ein Tierheim kam. Aber während er sich sein Steak briet, plagten ihn unvermittelt Gewissensbisse. Er nahm das Fleisch aus der Pfanne, viertelte es und ging zur Tür hinaus.
Der Hund lag vor dem Haus und sprang sofort auf, als er John sah.
Wem gehört der Hund?
Er warf ihm unbeholfen die Fleischstücke hin, die der Hund sofort hinunterschlang. John hatte nie ein Haustier besessen, aber er fühlte gerade so etwas wie die nie gekannte Verantwortung einem anderen Lebewesen gegenüber.
Er wusste, dass viele Hunde einen Chip implantiert hatten, die Aufschlüsse über seinen Besitzer gaben. Um diesen Chip auszulesen, musste er einen Tierarzt aufsuchen. John googelte in seinem Handy nach dem nächsten Tierarzt
und machte sich langsam auf den Weg dorthin, in der Hoffnung, dass der Hund ihm folgte. Der Weg war nicht weit, aber er führte an einer stark befahrenen Hauptstraße entlang. Brav folgte der Hund ihm auf den Bürgersteigen. John hätte auch sein Auto nehmen können,
aber er wusste nicht, ob dieser Streuner überhaupt Autos kannte und nicht ängstlich darauf reagieren würde. So viele Gedanken hatte er sich schon lange um niemanden mehr gemacht ...
Die Praxis wurde von einer jungen Ärztin geführt, und an der Rezeption saß ihre Mutter. Diese hatte früher für ihren inzwischen verstorbenen Mann als Praxishelferin gearbeitet und nun für ihre Tochter. Die Frau war sehr freundlich und begrüßte zunächst den Hund,
bevor sie sich John zuwandte. "Was fehlt dem süßen kleinen Kerl denn?"
John berichtete in knappen Worten, wie er den Hund gefunden hatte - oder hatte der Hund nicht eher John gefunden? Und er wolle ihn nun zu seinem Besitzer zurück bringen. Dafür musste der Chip ausgelesen werden.
"Ja, ich verstehe. Er macht allerdings den Eindruck, dass er schon länger auf der Straße lebt", antwortete die erfahrene Tierarzt-Assistentin.
John hoffte, dass die Frau sich nun des Hundes annehmen würde, denn in seinen Augen hatte er bereits mehr als seine Pflicht getan und das Tier in Sicherheit gebracht.
In dem Moment kam die Tierärztin aus ihrem Sprechzimmer, und John erfuhr nebenbei, dass sie die Tochter dieser Frau war, aber dass er den Hund erst einmal wieder mitnehmen sollte ... wenn es ihm möglich sei ... die Ärztin war einfühlsam, auch, weil sie erfahren hatte, dass der Hund herrenlos war und ihm nicht gehörte.
"Ich bin Katja Musebrink", stellte die Ärztin sich vor, "es wäre sehr freundlich, wenn Sie den Hund mitnehmen und morgen wieder vorbei kommen würden. Dann kenne ich mit einem bisschen Glück den Namen seines Besitzers." Sie ließ sich von ihrer Mutter ein Gerät reichen, und tatsächlich gab es eine Registrierungs-Nummer auf einem Chip frei.
Aus einem Grund, den John sich nicht erklären konnte, sagte die ältere der beiden Frauen: "Und ich bin Sabine Fengler."
Mutter und Tochter wollten John einfach in das Schicksal des Hundes involvieren. John war plötzlich noch unsicherer als sonst, und er wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte. Er hatte nie ein Haustier gehabt, nicht einmal für einen Tag ...
ohne weiter nachzudenken, dreht er sich um und verließ fluchtartig die Praxis der Tierärztin.
Nicht alle Geschichten können gut ausgehen, dachte John während seiner Flucht.
Fortsetzung folgt
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