Fiktives Interview mit
einem Politiker
Man kann sich vorstellen, wie schwierig es gewesen ist, einen Politiker zu diesem Interview zu "verführen", denn obwohl alle gern ihre Gesichter in jede Kamera hängen, reden sie ungern Klartext. Schließlich habe ich jemanden gefunden, der auch vergeblich versucht hat, einen Rest von
Gewissen in seinem tiefen Inneren zu finden.
Wann, Herr Fiktiv, hatten Sie die letzte Begegnung mit Ihrem Gewissen?
Herr Fiktiv: Ich bin katholisch und habe daher die Möglichkeit der Beichte. Über die Buße danach, gleich 1.000 Ave-Maria zu beten, habe ich mich allerdings gewundert. Schließlich habe ich nichts Schlimmeres getan, als alle anderen auch.
Wie lauteten denn Ihre Sünden ... wollte der Pfarrer Ihnen bei so viel Buße vielleicht nur die Zeit für weitere Sünden stehlen?
Herr Fiktiv: Sind Sie autorisiert, mir solche Fragen zu stellen?
Ja, ich bin eine Bürgerin dieses Landes. Nun rücken Sie schon raus mit Ihren Sünden!
Herr Fiktiv: Mein Vorgesetzter ist der Fraktions-Chef und nicht Sie!
Da irren Sie sich, ich bin Ihr Souverän. Los, raus mit Ihren Sünden.
Herr Fiktiv: Ich bin ein großes Rad im Getriebe, Sie sind ein winzig kleines bis gar nicht vorhandenes. Wie lauten denn Ihre Sünden?
Gottseidank habe und wollte ich keine Gelegenheit, in diesen Dimensionen Sünden zu begehen.
Besten Gewissens habe ich Sie und Ihre Partei dauergewählt. Ich dachte, Ihre Partei sei sozial und pro Bürger eingestellt.
Herr Fiktiv: Sie haben vermutlich keine Ahnung vom großen Ganzen, das meine Partei und ich immer im Blick haben.
Etwa in der Art, wie ich meine Rente oder Pension im Blick habe?
Herr Fiktiv: Offenbar wissen Sie, was alle, alle im Blick haben.
Ja, aber bei manchen Ihrer Kollegen ist der Blick verschleiert und reißt Löcher in die Jackentaschen, während ich - wenn ich Glück habe - ums Flaschensammeln herumkomme.
Herr Fiktiv: Nun hauen Sie mal nicht so sehr in die sensible Kerbe. Den meisten Rentnern geht es gut.
Den Pensionären geht es besser. Den pensionierten (oder zurückgetretenen) Politikern n o c h besser. Wie lauten noch mal Ihre Sünden?
Herr Fiktiv: Siehe die Anzahl meiner Wähler - und wenn die meiner eigenen Partei nicht reichen, schieße ich mich eben mit anderen zusammen - und so lange niemand sich beklagt, gilt das Glücksmoment.
Und passt dann alles zusammen, was Sie zusammenführen?
Herr Fiktiv: Nur dumme Leute können solch dumme Fragen stellen. Wir machen das eben passend und verteilen Posten und Pöstchen für die, die sonst keine Posten bekommen, aber gewillt sind, dem großen Ganzen zu folgen.
Bin ich Ihnen gleichgültig? Und noch einmal: wie lauten Ihre größten Sünden?
Herr Fiktiv: Sie sind mir so was von gleichgültig! Während Sie der Straße und dem auf-der-Straße-leben näher sind, bin ich diesem sprichwörtlichen Elfenbeinturm nahe ... ich bin frei von jeder Sünde - und werfe den erstbesten Stein auf Sie.
Und wer bezahlt Ihnen diesen Stein?
Herr Fiktiv: Das Grundgesetz. Ich bin das Grundgesetz - und Sie sind der Abgrund, in den ich täglich gucken muss. Sie widern mich an, Sie B ü r g e r i n! Intellektuell bin ich Ihnen haushoch überlegen, weil
ich geschafft habe, von dem Sie nur träumen können. Und wenn Sie mir nicht folgen können, dann sind
Sie die Sünderin.
An dieser Stelle beende ich das Interview. Es hat mich nicht gefreut, mit Ihnen zu sprechen, aber zumindest habe ich es versucht. Meine Erfolglosigkeit gestehe ich ein.
Herr Fiktiv: Sie sind Fußvolk, ich bin der Stern am Polithimmel, der Ihnen die Richtung vorgibt. Ob Sie das wollen oder nicht, spielt keine Rolle. Meine Status-Kollegen und ich bestimmen die Richtung.
Sie werden verstehen, dass ich sehr enttäuscht von Ihnen bin. Auch, dass Sie mir keine Sünden Ihrerseits beichten.
Vier Jahre lang sind Sie mir völlig egal - aber achten Sie mal darauf, was meine Partei und ich Ihnen kurz vor der Neuwahl versprechen,
denn meine Überraschung wird Sie schon überzeugen, uns wiederzuwählen.
Ich erkläre hiermit, dass ich dumm genug bin, darauf eventuell hereinzufallen.
Aber die Wahrheit verschwindet unter dem Wust von Plattitüden. Und einmal habe ich als betroffener Bürger das letzte Wort ... nur diesmal.
Guten Tag, Gruß Silvia
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