Sonntag, 1. November 2015

1. November 2015 - Stille Stunden - Allerheiligen "Yesterday"



Yesterday

war die Welt um mich herum nicht besser oder schlechter, aber anders. Und an Allerheiligen denke ich immer gerne zurück, besonders an das in meiner frühen Kindheit. Heute hat es für mich an Bedeutung verloren, denn ich besuche kaum einmal ein Grab, weil es mir nichts gibt, an Gräbern zu stehen. An die lieben Verstorbenen kann man überall denken, und gerade an Gräbern habe ich am allerwenigsten das Gefühl, einem meiner Verstorbenen nahe zu sein.

Das unterscheidet sich im übrigen nicht viel von den Gefühlen aus meiner Kindheit. Gräber waren nie ein wichtiger Ort.

Doch damals wurde Allerheiligen zelebriert und zu einem Event hochgearbeitet. Meine Oma Josefine, ihre Schwestern und Schwägerinnen agierten hier als Event-Managerinnen, lange bevor man überhaupt eine Frau als Managerin bezeichnet hätte.

Und so hatten besonders meine Oma und ihre Schwägerin Jo alle Familienangehörigen - eine Größenordnung in der Form kam überhaupt nur an Allerheiligen zusammen - an einen Ort beordert, von dem aus die Sache angegangen wurde. Es war die Schüruferstraße in Dortmund-Schüren.

Wirklich viele Kinder gehörten nicht zu unserer Familie, so dass man das Gefühl behielt, hier ordentlich im Mittelpunkt zu stehen. Wenn ich heute daran zurück denke, stelle ich mir immer eine Horde von miteinander verwandten Menschen vor, die einem Marschbefehl folgte.

Los ging es zum örtlichen Friedhof, und zwar erst in der Dunkelheit. Bewaffnet mit Grabgestecken und diesen roten Langzeit-Kerzen, die es immer noch gibt. Oma wusste ganz genau, wo welcher Verstorbene zu finden war.

So gingen wir unter anderem zu dem Grab ihres Mannes Silverius, den ich leider nie kennen lernen durfte. Bereits im Alter von siebenundvierzig Jahren war er an einer Staublunge verstorben, denn er war Bergmann von Beruf. Eine kleine Nebengeschichte dazu zeigt die Gläubigkeit meiner Oma: Um diese Todesursache amtlich zu machen, hätte sie ihn obduzieren lassen müssen. Das hätte auch ihre Rente erhöht. Aber um nichts in der Welt wollte sie seine Totenruhe stören lassen ...

Lange nach seinem Tod setzte meine Oma es durch, dass ich nach ihm Silvia benannt wurde - obwohl meine Mutter mich Monika nennen wollte. Danke, Oma, ich heiße viel lieber Silvia als Monika.

Ein ganz trauriger Gang führte zu Johannes Grab. Meine Oma hatte drei Söhne gehabt: Meinen Vater, Franz und Johannes, den ältesten. Johannes, Hans genannt, war mit 21 Jahren von den Nazis ermordet worden. Das habe ich aber erst vor etwa zehn Jahren von meiner Mutter erfahren, Oma hat nie darüber gesprochen. Und ich mache das jetzt auch nicht.

Natürlich besuchten wir jedesmal so einige Gräber, so genau erinnere ich die anderen leider nicht.

Denn erst nach dem Friedhofs-Gang wurde es spannend für mich. Die ganze Familie fand sich in Möllmanns Wirtschaft (sagte man damals so) ein. Die Möllmanns waren ein Geschwister-Paar, das ihr ganzes Leben miteinander verbrachte und dieses Lokal führte.

Hier gab es dann das, was man heute neudeutsch Dinner nennt, Getränke nach Wahl und jede Menge Fröhlichkeit. Es wurde viel getrunken und gelacht - und wir Kinder waren mittendrin in einem lustigen Haufen von Verwandten, und wir wurden verwöhnt bis der Bauch sich vor Lachen wölbte oder auch die Schokolade einfach nicht mehr hinein passen wollte.

Das ist lange her, aber ich denke sehr oft an diese Zeit zurück. Mit der Reise meiner Oma ins Vergessen - nein, es war nicht Alzheimer - endeten diese Zusammenkünfte. Tante Jo starb noch Jahre vor meiner Oma.

Der ehemalige Zusammenhalt einer Familie endete auch durch den Tod so einiger anderer Verwandter. Aber die Erinnerungen daran nimmt mir keiner, auch wenn heute alles anders geworden ist - und ich es auch nicht mehr so haben möchte, wie meine Oma es sich vielleicht für mich gewünscht hätte.

Guten Tag, Gruß Biene




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