Die Weihnachtsverweigerin
Zehn Jahre Weihnachten mit Jan's Familie hatten Wiebke an die Grenzen ihrer Nervenkraft gebracht, denn schon viele Wochen vor Weihnachten
überfiel sie der Horror, wenn sie an das Fest der Liebe dachte:
Jan mochte es, wenn seine Eltern Klaus und Agnes von ihnen, aber vor allem von Wiebke, von hinten bis vorne nicht nur hofiert, sondern auch verköstigt wurden. Zumindest geduldig war er mit dem tüddeligen Vater seiner Frau, Pit. Und er freute sich, seinen Cousins und deren Frauen zeigen zu können, dass seine Wiebke eine hervorragende Gastgeberin war.
Was seine Mutter Agnes zwar nie im Leben unterschrieben hätte, aber sie freute sich stets über den guten Wein, den Jan ihr einschenkte.
All das wollte Wiebke in diesem Jahr nicht, denn was immer auch der Erfolg ihrer Mühe wäre, es gäbe Kritik - und manchmal gab es sogar Streit. Agnes hatte sich niemals in den zehn Jahren mit Wiebke anfreunden können, was nicht einmal gegen Wiebke oder Agnes sprach, sondern einzig für Agnes' Affenliebe zu ihrem Sohn. Eine Frau, die ihm gerecht werden und die er verdient hätte, hätte es niemals geben können.
Wiebke hatte sich kurz geschlossen mit ihrer Freundin Isabell, die allein lebte und Single aus Überzeugung war. Vor allem machte sie sich nichts aus Weihnachten. Aber so ganz allein war sie an diesem Abend, dem heiligen, auch nicht gern. So hatte sie sich schnell und gerne bereit erklärt, den Abend mit Wiebke zu verbringen.
Wiebke hinterließ den gesamten Einkauf inklusive Rezepten für deren Zubereitung und verließ am frühen Morgen ihr Zuhause. Dann schaltete sie ihr Handy aus und fuhr ein paar Kilometer zu ihrer Freundin.
Isabell begrüßte die langjährige Freundin mit absoluter Freude über deren Entschluss, Dinner und Verwandtschaft im Stich gelassen zu haben und freute sich diebisch darüber. Ihrer Meinung nach hatte es ein Mann wie Jan durchaus verdient, sich mal selber um die Gaumen- und sonstigen Freuden seiner eigenen Sippe zu kümmern.
Wiebke ließ sich in die Polster fallen und fühlte sich frei. Ganz am Rande und nach drei Prosecco empfand sie sich wie eine Heldin des Alltags oder eine, die Weihnachten die kalte Schulter zeigte.
Später rief Isabell einen Pizza-Service an - und die beiden Frauen kauten auf dem zumindest für Wiebke ungewöhnlichen Abendessen für einen Heiligabend herum.
"Hoffentlich amüsieren sie sich jetzt nicht über meinen armen Papa", meinte Wiebke und biss in ein Stück Pizza, "und meinst du, Jan hat es gewuppt mit dem Dinner?"
"Nun ja, seine Mutter ist auch noch da", sagte die Freundin, "sie wird ihm schon geholfen haben."
Oh je, dachte Wiebke - seine Mutter konnte kritisieren, aber mit Kochen hatte sie nicht wirklich viel am Hut.
Später aktivierte Isabell das Internet - und die beiden amüsierten sich, die eine mehr, die andere weniger, was all ihre Freunde an Heiligabend posteten. Die, die das weniger amüsierte, war Wiebke.
Mittlerweile waren sie bei der zweiten Flasche Prosecco angekommen und Wiebkes Laune im Keller.
Weglaufen war auch keine Lösung, wie sie erkennen musste. Dableiben aber ebenso wenig. Was war dann die Lösung?
Für Isabell war dies ein Tag wie jeder andere, für Wiebke war es immer noch ein bedeutungsvoller Tag. Sie wäre gern in die Mitternachtsmesse gegangen - aber mit soviel getrunkenem Alkohol und so wenig Zuwendung zu Weihnachten wie Isabell es an den Tag legte, war das kaum machbar.
Es saßen sich zwei Frauen gegenüber, die sich übers Jahr immer gegenseitig Freude gemacht hatten, aber heute wollte der Funke einfach nicht überspringen:
Die eine war eben nicht der Weihnachts-Typ, und die andere, die vor Weihnachten geflüchtet war, erkannte plötzlich, wie sehr ihr Weihnachten fehlte. Weihnachten, nicht die puckelige Verwandtschaft, abgesehen von ihrem Vater.
Wie würde er sich in dem Desaster, das sie hinterlassen hatte, fühlen?
Wie fühlte sie sich hier in Isabells ungeschmückter Wohnung und fernab von Weihnachten am 24. Dezember dieses Jahres?
Copyright: Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt
Einen guten 1. Weihnachtstag wünscht Silvia
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