Samstag, 26. Januar 2019

26. Januar 2019 - Kurzgeschichte: Und plötzlich war alles anders ... 7. und letzter Teil



Und plötzlich war alles anders ...

Meine Mutter war schon immer eine recht extravagante Person, und nun, in ihren klaren Momenten, wurde ihr zu deutlich, dass sie im Laufe der Zeit ihre vollständige Persönlichkeit verlieren würde. Die Leute, die sie kannten, würden sie bald schon bemitleiden anstatt wie früher zu beneiden. Das sagte sie mir in diesem kurzen Wiederaufflackern als die Frau, die sie mal war - und die sie auf Dauer nie wieder sein würde. Sie würde auch nicht mehr die Frau sein, die von ihrem Mann vergöttert wurde - denn auch er war nicht mehr derselbe. Konnte irgendeine Situation auf der Welt aussichtsloser sein als ihre und seine? Bei vielen anderen Krankheiten konnte man immer zumindest auf Besserung hoffen, bei dieser nicht - das Dilemma würde sich verschlimmern, mehr oder weniger schnell.

Mir jedoch waren nicht die Hände gebunden, ich konnte handeln. Zunächst einmal machte ich mich über Medikamente kundig, die auch die Schweizer Sterbehelfer benutzten. Wie man daran kommen sollte, war jedoch mehr als schwierig - meine Eltern selber kamen in ihrem Zustand wohl kaum für eine offizielle Sterbehilfe in Betracht. Ihnen fehlte einfach die freie Entscheidung. Ich jedoch war beinahe sicher, dass sich beide genau das wünschen würden ...

Also begab ich mich in die Illegalität. Zunächst einmal durchforstete ich den Computer meines Vaters, um nach entsprechenden Klienten aus seiner Zeit als Rechtsanwalt zu forschen. Wer hatte mit ähnlichen Dingen etwas zu tun gehabt, wer war skrupellos genug, gegen Geld das Erwünschte zu besorgen?

Und welcher seiner "Ganoven" würde mich am Ende hoffentlich nicht erpressen? Es war schon schwieriger, hier eine Linie zu ziehen. Ich musste mich eben auf mein Glück verlassen - oder es darauf ankommen lassen. Diesen letzten Dienst war ich meinen Eltern schuldig - immerhin hatten sie es geschafft, aus mir einen halbwegs vernünftigen Menschen zu machen, der mit beiden Beinen im Leben stand. Und das hieß, auch den Tod nicht völlig zu verdrängen.

Ich wurde bei Dennis Zielke fündig. Er hatte so einiges auf dem Kerbholz, und seine Taten waren breit gestreut. Mein Vater hatte ihn mehrmals verteidigt, aber vor diversen Gefängnisaufenthalten konnte er ihn auch nicht schützen. Offenbar aber lag nun seit etwa sieben Jahren nichts mehr gegen ihn vor - falls er sich keinen anderen Anwalt gesucht hatte, was hier natürlich dann nicht vermerkt gewesen wäre.

Dennis Zielke war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. Weil er nur Gutes über meinen Vater erzählen konnte, wie er mir sagte. Und - er war wirklich seit sieben Jahren nicht mehr straffällig geworden ... oder einfach nicht mehr erwischt worden. So genau wusste das natürlich außer ihm selber niemand. Es spielte hier und jetzt auch keine Rolle - viel wertvoller war seine Dankbarkeit gegenüber meinem Vater.

Ich schilderte ihm die aussichtslose Lage meiner Eltern. Erklärte ihm den dringenden Wunsch meiner Mutter ...

... auch ich hatte einen dringenden Wunsch: Ich wollte Luke nicht verlieren - aber wie konnte ich beruhigt nach New York gehen, wenn meine Eltern hier durch eine Hölle gingen und ihr einziges Kind nicht an ihrer Seite wussten? Nicht einmal sie selber würden Seite an Seite durch dieses Jammertal gehen können, weil man sie schließlich trennen würde ...

Ich nannte ihm die Namen zweier Medikamente, er nannte mir seinen Preis (immerhin sei er ansonsten sauber, also könne er es nicht umsonst machen) - und er bat sich eine Woche Zeit aus, um die todbringende Dosis zu besorgen.

Ich wachte schweißgebadet und schuldbewusst auf. Dieser Traum war bedrückend real gewesen, aber er passte so wenig zu mir wie die Tatsache, meine Eltern allein zu lassen in ihrem Leid. Oder passte er doch? Sollte ich ihnen in dieser Art helfen? Irgendwann ... vielleicht ... jetzt noch nicht.

Ich war orientierungslos und taumelte hin und her zwischen dem Gefühl für Luke und dem für meine Eltern. Gerne hätte ich meine Eltern um Rat gefragt, wie ich es früher oft getan hatte. Aber das ging nun nicht mehr ... auch für jeden anderen ihrer Ratschläge war es bereits zu spät.

Ab jetzt nannte ich mich nicht mehr per Understatement Lore, sondern nur noch Lorelei - und wohin mein Weg mich führen würde, was einerseits Luke und andererseits meine Eltern anging,

würde die Zukunft zeigen. Ich würde mich ihr stellen, weil man am Ende gar nicht anders kann als seinem Gewissen und seinem vermutlich vorgegebenen Weg zu folgen.


ENDE

Copyright Silvia Gehrmann


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