Freitag, 25. Januar 2019
25. Januar 2019 - Kurzgeschichte: Und plötzlich war alles anders ... 6. Teil
Kurzgeschichte
Und plötzlich war alles anders
Dr. Manuel Plunger war nicht nur der Internist, sondern auch ein langjähriger Freund meines Vaters, der mich schon kannte, als ich noch ein kleines Stöppken war. Wie oft hatte er mit meinem Vater Schach gespielt, wie oft hatte er mir meine Lieblings-Schokolade mitgebracht - und später hier und da mal ein Kochbuch? All das ging mir durch den Kopf, als ich sein Sprechzimmer betrat - und auf eine simple Erklärung hoffte. Immerhin kannte er meinen Vater nicht allein aus seiner Tätigkeit als Arzt und konnte die aktuelle Lage sicher gut beurteilen und bewerten und prognostizieren. Ich hoffte auf einfache Streitigkeiten unter Eheleuten, die bei meinen Eltern immerhin längst fällig waren ... Allerdings ... Das "blaue Auge" meines Vaters ... Und ihrer beider Aussagen über die Demenz des jeweils anderen?
Sein Gesicht war ernst, als er mich kurz drückte. Dieser Druck fühlte sich an, als solle Kraft von seinem in meinen Körper übergehen. Ich war höchst sensibilisiert und auf alles gefasst.
"Bei deinem Vater ist es mir zuerst beim Schachspielen aufgefallen", erzählte er in seiner ruhigen Art, "ihm fehlte jeder sonst so präsente Siegeswille, er setzte unsinnige Züge ... Na ja, du kannst es dir den Rest denken. Als mir der Verdacht kam, habe ich mich heimlich etwas im Haus umgesehen ... und im Kühlschrank Winterschuhe gefunden. In der Abstellkammer standen noch in Tüten verpackte Lebensmittel jeglicher Art, und sie standen dort schon eine ganze Weile."
Irgendwann gelang es ihm, beide zu einer Untersuchung zu bewegen. "Sie wissen, welche Krankheit sie haben, sie wissen, dass sie Alzheimer haben", sagte er, "und sie haben keinen Einfluss darauf, wie das sich auf sie auswirkt. Dein Vater ist eher depressiv, während deine Mutter höchst aggressiv reagiert. - Wärst du jetzt nicht zurück gekommen, ich hätte dich verständigen müssen ..."
Mir wurde kalt, mir wurde heiß und ich empfand plötzlich ein tiefes Selbstmitleid: Wie sollte ich schaffen, was vor mir lag? Mindestens eine lange Weile dachte ich dann überhaupt nicht an meine Eltern, sondern nur an mich. Das kam alles ungelegen. Das durfte nicht wahr sein. Ich hatte eine glückliche Beziehung, die ganz am Anfang stand, aber nur in weiter Ferne stattfinden konnte - aber ich fühlte langsam die Fesseln, die nach mir ausholten und mich umkrallten.
"Sie haben noch ihre klaren Momente", fuhr Manuel Plunger fort, "aber vermutlich nicht beide gleichzeitig. Und zumindest für eine Weile müsste man beide voneinander trennen - vielleicht sogar so lange, bis sie einander vergessen haben"
Das waren Aussichten! Und ob ich wollte oder nicht, ich war darin involviert. Ich rief Luke an und verabredete mich in einem Cafe, um ihm die bittere und vor allem traurige Wahrheit zu erzählen. Er wusste, es gab hier keinen Trost oder relativierende Worte - also nahm er mich nur in den Arm. Ich wusste schließlich selber kaum noch, was ich sagen oder denken sollte. Wenn es ein Elternteil trifft mit dieser furchtbaren Krankheit, ist dies schon Schicksalsschlag genug - aber gleich beide und dann noch nicht mal nacheinander und in großen Abständen, sondern gleichzeitig?
In den nächsten Tagen erlebte ich meine Mutter auch mir gegenüber als aggressiv. So gut es ging, überhörte ich ihre Schimpf-Tiraden. Immerhin wusste ich, dass es nicht sie selbst war ... Dann jedoch war sie wieder ziemlich klar, für ein paar Stunden zumindest. Aber in diesen Stunden kam es noch schlimmer:
"Ich will mit deinem Vater aus dem Leben gehen", entschied sie,"denn so haben wir uns unseren Lebensabend nicht vorgestellt. Ich könnte jetzt Schlaftabletten besorgen, aber ich will etwas Wirkungsvolleres ... und etwas, das nicht so brutal ist. Du bist an der Reihe - du musst uns etwas besorgen, das uns hilft, von der Welt zu gehen."
Der letzte Teil der Kurzgeschichte folgt
Copyright Silvia Gehrmann
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