X-Mas Undercover oder: Das beste Weihnachten ist eines, das man nicht bemerkt
„Der ist vom anderen Stern“, das kennzeichnet am besten die Fremdheit des Autisten in unserer Welt. Wenn man diese Tatsache, als Mutter und Vater eines autistischen Kindes verstanden und halbwegs verarbeitet hat, versucht man in den nächsten Jahren, seine und die „normale“ Welt kompatibler zu machen. Ein bisschen jedenfalls, denn viel geht da nicht.
Die wichtigste Voraussetzung ist heraus zu finden, wie so jemand tickt, seinen Code ein kleines bisschen zu entschlüsseln, damit man verstehen kann. Damit man versuchen kann, in der Schutz-Mauer, die jeder Autist um sich herum von Anfang an errichtet, das winzige Löchlein zu finden. Denn ein Schlupfloch, das gibt es immer.
Es kann ein Scherz sein, eine Gewohnheit, ein freudig wahrgenommenes Geräusch, besondere Musik oder ein Lied. Wer aufmerksam beobachtet, wird es bemerken, da setzt man dann den Hebel an, und versucht geduldig über lange, lange Zeit, das winzige Löchlein zu einer geräumigen Tür, zu diesem einsamen Menschlein aus zu bauen. Denn auch wenn Autisten noch so abweisend und selbstgenügsam erscheinen – sie sind zutiefst allein – und nicht in der Lage, für sich das ein zu fordern, was Grundbedürfnis jedes menschlichen Wesens ist: Kontakt zu einem anderen menschlichen Wesen.
Wenn es aber einen Menschen gibt, der sich die Mühe macht zu verstehen, der in der Lage ist, sich selbst erst einmal zurück zu nehmen, der beharrlich und geduldig ist, dann kann er auch Kontakt bekommen: Indem man gemeinsam lacht, staunt, singt, isst oder ein Ritual zelebriert, stellt man eine ganz kurze Gemeinsamkeit her. Dabei gilt, es, unbedingt zu respektieren, dass Autisten zu viel Nähe nicht ertragen können, direkte körperliche Nähe eben so wenig, wie intensiven Blickkontakt. Davon fühlen sie sich massiv bedroht.
Am wirkungsvollsten ist es, wenn man sich das autistische Bedürfnis nach Ritualen und Routine zu Nutze macht, dafür braucht es aber einen langen Atem. Doch hat man sich erst einmal etabliert als wichtiger Teil im autistischen Alltagsablauf, ist der Trojaner schon fast drinnen. Bis es soweit ist, können allerdings schon Monate vergehen, frustrierende Rückfälle inklusive. Oft genug verläuft der Prozess „zwei-Schritte-vorwärts-drei-zurück“. Und oft genug ist es ungeheuer stupide immer und immer wieder dasselbe zu tun oder zu sagen.
Wie tickt nun also so ein einsames Wesen vom anderen Stern? Die Unterschiede fangen schon bei der Basis an: Bei der Wahrnehmung, denn ein Autist nimmt anders wahr. Seine Sinne hören, sehen, riechen, schmecken und fühlen verzerrt, und diese schrägen Eindrücke werden auch noch disharmonisch miteinander verknüpft. Das macht ihnen oft große Angst, Panik, und erregt manchmal auch Wut und Aggression als hilflose Reaktion darauf.
Jeder wache Moment ist wie ein schräger LSD Trip, ist dem Chaos und Schrecken ausgeliefert. Deshalb flüchten sich Autisten in Berechenbarkeit, begegnen dem Terror mit zwanghafter Kontrolle und Gleichförmigkeit. Retten sich durch den wilden Ozean ihres Tages auf ein Floß von Routine, Uhrzeit, vertrauter Umgebung. Ein guter Tag ist einer, an dem alles wie immer ist.
Weihnachten sind keine guten Tage. Sie sind die Höhepunkte einer langen Reihe schlechter Tage, der Adventszeit. Da gibt es viel Kerzenlicht, das macht Angst, alles flackert, Konturen lösen sich auf, es gibt zu viele dunkle Ecken, überall stehen und hängen komische Dinge, man erkennt seine vertraute Umgebung nicht mehr, immer wieder wird gesungen oder Musik gespielt, das ist schrill und schrecklich. Alles ist viel zu warm. Es riecht anders, scharf und viel zu intensiv. Oft muss man stillsitzen und warten bis etwas zu Ende ist: vorlesen, erzählen, musizieren, singen.
Und selbst, wenn man nicht mitmachen muss, sondern aufstehen darf und weggehen, spürt man den Druck der Erwartung und den spürt so ein hochsensibler Autist unter seiner versteinerten Maske ganz genau: Du bist falsch, nicht gut, nicht richtig. Du kannst diese Empfindung nicht ausdrücken, nur dass es immer wieder weh tut, das merkst du sehr deutlich. Die Menschen sind enttäuscht von dir. Das kommt an, mit voller Wucht.
Schlimm ist auch dass sie das Alleraller-Unmöglichste wollen: Dich berühren, dich drücken und küssen und streicheln. Verstehen kann man es, denn du bist bildhübsch, mit großen blauen Augen und hellblonden Locken. ( „Ein Glück“, sagt die eine Oma oft, „wenigstens sieht man ES nicht“) „Na komm mal her David, gerade Weihnachten, ein wenig Kannst du dich auch bedanken für deine Geschenke“. Zunächst duckst du dich weg, bei hartnäckigeren Versuchen ziehst du dann schon mal an den Haaren oder kratzt.
„Wird er jetzt aggressiv?“ „Ihr solltet wirklich was unternehmen“ „Es gibt so schöne Heime“ Weihnachten oder nicht, diese Sätze fallen immer wieder, seit Davids fünftem Lebensjahr. Aber Heiligabend stoßen sie besonders bitter auf. Geduldig erklären wir wieder und wieder, warum alles ist wie es ist, warum wir nicht im Traum daran denken, unser kleines Kind in ein „Schönes“ Heim zu geben – es nützt nichts, diese Informationen sind bei den Großeltern innerhalb von einer Woche verdampft.
Wir haben also die ersten Jahre unser Bestes getan, den Schrecken für den Sohn zu dosieren und gleichzeitig für seine „normale“ Zwillingsschwester ein richtig tolles Fest zu feiern. Hört sich an wie die Quadratur des Kreises, geht aber, wenn man sich Mühe gibt und eine ausgefeilte Logistik abspult.
Nach einigen Jahren etablierte sich folgender Ablauf: Omas und Tanten trudelten ein. Einer von uns war dann schon mit David auf Autotour. Entspannt mit Kassettenrekorder saß er dann hinten im Kindersitz und blickte versonnen aus dem Fenster. Zuhause ist inzwischen die erste Geschenke-Auspack-Welle. Marie freute sich ganz in Ruhe über all das Schöne, was meine Schwestern und die Omas ihr mitgebracht haben, wie immer viel zu viel, aber alles liebevoll verpackt und wie immer ganz genau das Richtige. Marie war selig.
David liebte (und liebt es mit 27 Jahren immer noch) an Weihnachten eigentlich nur das Herunter fetzen von Geschenkpapier. Die Geschenke selber sind ihm meist schnuppe, er pfeffert sie erst unbeachtet in die Ecke, braucht einige Zeit und Ruhe, um sie für sich zu entdecken. Auch hier ergaben sich immer wieder Kommunikationsprobleme. „Macht ja gar keinen Spaß dir was zu schenken, jetzt schau dir das doch mal an, David!“. Wieder einmal dolmetschte ich geduldig, dass er das nicht missachtend meinte, sagte, dass ich wie immer die nächsten Tage anrufen würde, um zu erzählen, wie er sich über dieses und jenes freut –Tage später erst, wenn sein Rhythmus es zuließe. Heute aber sei nun einmal Auspack-Tag für das Enkelkind.
Den versetzte das Aufreißen von Päckchen in einen derartigen Rausch, dass ihm vollkommen wurscht war, ob es sich um seine Geschenke oder die seiner Schwester handelte. Die wiederum wickelte jedes Paket langsam und genussvoll aus…
Ergo fuhr eben einer von uns eine ganze Weile mit David herum. Der hatte dann erst einmal Hunger, wenn wir wieder zurück kamen. Er verschwand mit einem von uns hinterm Küchentisch und wurde kurz aber herzlich an der Küchentür begrüßt, denn die Omas hatten sich emotional schon an Marie ausgetobt, die mochte geherzt und geküsst und gedrückt werden. Für ihre Geschenke hatte sie genug Zeit gehabt, alle waren also entspannt.
Wenn dann die Verwandtschaft fröhlich abgezogen war, machten wir erst unsere David Bescherung, dann der übliche Autisten-Ablauf, dank entsprechender VHS-Aufnahmen so wie jeden Tag: Baden, Sesamstrasse, Sandmännchen, Bett. Diesen Ablauf hatte David noch bis er 20 war.
Er hat dann selbstverständlich noch nicht geschlafen, sondern in seinem Zimmer lange an seinem Computer gesessen, Musik gehört, Videos geguckt oder Autorennen gespielt. Aber spätestens um 19.00 Uhr war „Betti gehen“.
Dann hatte Marie ihre eigentliche Bescherung und ihr altersentsprechendes Weihnachtsdinner. Dann wurden alle Kerzen angezündet und alles so gemacht wie es für Weihnachten vorgeschrieben ist. Irgendwann, ich glaube die Kinder waren 5 oder 6, sind mein Mann und Marie am 1. Weihnachtstag in aller Herrgottsfrühe nach Österreich aufgebrochen. Freunde betreiben im Salzburger Land eine kleine Pension, einsam gelegen auf 1500m Höhe. Dort blieben die beiden bis kurz vor Sylvester, liefen Ski und erholten sich von Heiligabend. Diese Gewohnheit hielt sich lange Zeit.
Und David und ich: Wir hatten es auch so richtig gut zu Hause. Nur wir beide, verstanden uns ohne viele Worte, in diesen Tagen konnte man mit David sogar schmusen. Wer braucht da schon Geschenke?