Samstag, 5. November 2016

5. November 2016 - Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann: "Das Geisterhaus" - Teil 1


Das Geisterhaus

Als Britta die Nachricht ins Haus flatterte, dass sie die Erbin einer Tante war, die sie schon ewig lange nicht mehr gesehen hatte, konnte sie es einerseits kaum glauben, und andererseits beschämte sie diese Erbschaft. Sie konnte sich nicht an den letzten Gedanken erinnern, der ihrer Tante Louise galt - und wenn, dann war es vermutlich nicht einmal ein so guter gewesen. Louise war zu ihren Lebzeiten eine schwierige Frau,

und vielleicht wollte sie ihr nun nach ihrem Leben auch ein paar Schwierigkeiten bereiten.

Britta war eine Frau von fünfundvierzig Jahren und voller Selbstmitleid glaubte sie nicht mehr an wirklich positive Ereignisse, denn so vieles war nicht glatt gelaufen:

Sie war keine vom Leben verwöhnte Frau, jedoch manchmal, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste sie, dass sie sich nie bemüht hatte, etwas aus ihrem Leben und ihren Talenten zu machen.

Britta hatte getanzt und geschauspielert, sogar eine Schauspielschule hatte sie besucht - aber nicht zu Ende gebracht. Der Kampf einer Schauspielerin um Engagements war ihr sowieso immer als zu hart erschienen, warum sich also in irgendeiner Form um Theater-Jobs bemühen? Tanzen konnte sie nach einem komplizierten Beinbruch nicht mehr. Mit dem linken Fuß hinkte sie leicht.

Also schlug sie sich mit Gelegenheits-Jobs durch die Zeit und meistens arbeitete sie als Kellnerin. Aber eines Tages würde sie in diesem Beruf noch weniger arbeiten können als in dem einer Schauspielerin, denn wer stellte schon alte Service-Kräfte ein?

Als Britta mit dem Notar ihrer Tante sprach, erkannte sie jedoch, dass sie wirklich und tatsächlich einmal im Leben offenbar Glück hatte. Louise vermachte ihr nicht nur ihr Waldhaus am Rande eines kleinen Ortes, sondern auch eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes. Zwar würde das Geld nicht bis zu ihrem Lebensende reichen, aber es würde ihr Zeit zum Nachdenken geben. Die ich hoffentlich nutzen werde, dachte sie betrübt. Sie war manchmal einer Depression näher als guten Gedanken,

aber es gab "Laberfürst", ihren lustigen, witzigen und zu allem bereiten Siam-Kater, der sie stets vor den schlimmsten Gefühlen bewahrte.

Zwei Monate später zog Britta mit Sack, Pack und Laberfürst in ihr neues Haus.

Das Haus war nicht groß und es war kein Luxus-Objekt, aber eines zum Wohlfühlen. Sie ließ sich am ersten Abend mit einer Flasche Wein auf der Terrasse nieder und genoss ihre neue Unabhängigkeit. Beinahe empfand sie etwas wie Glück. Laberfürst ließ sich zu ihren Füßen nieder und sprach hier und da in seiner Katzensprache.

Doch der Schlendrian, der ihr Leben dominierte, nahm nach einem kleinen Höhenflug wieder Besitz von ihr. Sie lebte in den Tag hinein und machte sich noch weniger Gedanken als vor ihrer Erbschaft.

An einem Abend saß sie auf der Terrasse und wartete auf den Sonnenuntergang. Dabei dachte sie an ihren eigenen Untergang, der ihr so wenig ausmachte und sie nur bedrückte, wenn es um Laberfürst ging. Irgendwann würde sie ihrem Leben ein Ende setzen. Zum Beispiel, wenn das ererbte Geld zur Neige ging - so lange könnte sie es sich einigermaßen gut gehen lassen und sich um Laberfürst kümmern. Danach würde er sich um sich selber kümmern müssen ...

Als verstünde der Kater ihre Gedanken, sah er sie mit einem schief gehaltenen Gesicht von unten nach oben an. "Du bist so dermaßen blöd", hätten seine Worte sein können.

Im nächsten Moment kam ein Mädchen um die Ecke. Dessen Umrisse waren nicht genau zu erkennen, es schien wie ein halbfertiges Bild ... Britta erschrak, doch im Moment danach kam von der anderen Seite

eine alte, durchscheinend aussehende Frau. Beide blieben jeweils einen Meter entfernt von ihrer rechten und linken Seite stehen und sahen sie an:

Das Mädchen, es mochte neun Jahre alt sein, mit einem widerwärtigen Blick, während die alte Frau, die etwa neunzig Jahre alt sein könnte, einen gütigen Blick auf

Britta warf.

Britta sprang entsetzt auf und bekam mit einem Mal zu spüren, wie es ist, wenn man um sein Leben fürchtet. Das hier sind keine Gestalten aus dem realen Leben, dachte sie, zu Tode erschreckt, das sind

Geister.

"Stimmt", hörte sie das Mädchen sprechen, "ich bin ein Geist, und ich bin dir nicht gut gesonnen."

"Ich bin auch ein Geist", sagte die alte Frau, "aber ich bin dir gut gesonnen."

Werde ich jetzt verrückt, war Brittas letzter Gedanke, bevor sie zusammen brach und für einen Moment das Bewusstsein verlor.

Als sie kurz darauf wach wurde, waren die beiden Gestalten verschwunden. Laberfürst sah sie besorgt, aber nicht ängstlich erregt an. Sie ging zu Boden und klammerte sich an ihren Kater.

Fortsetzung folgt.


Copyright: Silvia Gehrmann



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