Samstag, 6. Februar 2016

6. Februar 2016 - Geschichten - "Ein ultimatives Dinner bei Melanie"



Ein fiktive Geschichte


Melanie findet keinen Rettungs-Anker

Melanie war bereits als Kind ein Sturkopf mit einem ausgeprägten Durchsetzungsvermögen, und je älter sie wurde, um so mehr war sie geprägt von Charakter-Eigenschaften, die ihren Mitmenschen zum Teil Sorgen bereiteten:

Es war schon im Kindergarten ein beinahe unmögliches Unterfangen, ihre Freundschaft zu gewinnen. Sie brauchte keine Freunde, sie war sich selber genug. Das erschreckte sie zwar bereits als kleines Dötzchen, gehörte jedoch zu ihrem Naturell.

In der Schule begann sie ihren Überflug und führte das auf die wenige bis gar keine Ablenkung durch Freundschaften zurück.

Im Studium der Medizin entschloss sie sich erstmals, einen festen Freund zu suchen. Sie musste feststellen, dass es nicht einfach war, obwohl sie eine ziemlich hübsche junge und schlanke Frau war. Doch im Umgang mit anderen Menschen war sie ungeübt und konnte nirgendwo wirklich andocken. Sie fand keinen Mann - dafür promovierte sie summa cum laude und fand sich damit ab, dass sie nun ins Leben entlassen wurde, um anderen Menschen zu helfen.

Anderen Menschen helfen? - Darüber hatte Melanie sich eigentlich niemals Gedanken gemacht. Bis sie als Ärztin im Praktikum vor ihrer ersten Patientin stand und feststellte, dass

sie sich ausgerechnet für dieses Studium entschlossen hatte, weil es ziemlich anspruchsvoll war und ihre absolute Intelligenz erforderte - aber mit dem Ergebnis all dieser Mühen anderen Menschen helfen zu wollen, war in ihren Plänen und Ausführungen einfach nicht vorgekommen.

Sie entschied sich, ihre Tätigkeit wie eine Maschine durchzuführen. Rein fachlich und sachlich bleibend würde es ihr gelingen, durch den Krankenhaus-Alltag zu kommen. Menschliche Regungen wie Mitgefühl blieben ihr fremd.

Zwar stumpft jeder Arzt im Laufe seiner Berufstätigkeit zu einem gesunden Maß ab, um nicht selber krank zu werden - aber Melanie musste dies nicht lernen.

Sie beherrschte die Klaviatur der menschlichen Unempfindlichkeiten gegen die körperlichen und seelischen Schmerzen der Mitmenschen, und konnte sich so völlig auf deren körperliche Genesung konzentrieren, ohne die seelischen Dilemma überhaupt in Betracht zu ziehen.

Eines Tages verstarben ihre Eltern beide durch einen Autounfall. Wie eine Maschine hatte sie alles Nötige geregelt.

Am Tag der Beerdigung stand sie an dem Familiengrab und dachte erstmals über sich selber nach. Sie sah auf ein Blumenmeer, denn ihre Eltern waren sehr beliebt gewesen - sie sah die Menschen an sich vorbeiziehen (Kondolieren am Grab hatte sie sich verbeten) und einige verdrückten ein paar Tränchen.

Wann hatte sie jemals geweint? Und wenn sie schon keine Tränen hatte - wann war sie zuletzt traurig gewesen - über irgend etwas?

Mit Erschrecken merkte sie, dass sie eigentlich immer traurig war.

Sie liebte ihren Beruf lediglich, wenn sie durch Röntgen- oder Blutbilder eine Diagnose vor Augen hatte, die am Ende zutraf. Der Mensch hinter dieser Diagnose blieb für sie gesichtslos.

Und irgendwann - als die Trauer über sich selber sie wieder einmal übermannte - guckte sie in ihren Kühlschrank und fand ein paar Zutaten, die sie

geschickt zu ihrem ersten guten Essen zusammen setzte. Mehr erschreckt als erfreut stellte sie fest, dass sie ein Talent besaß, von dem sie zuvor keine Ahnung gehabt hatte.

Melanie kaufte sich eine ganze Batterie von Kochbüchern und begann zu kochen, als hätte sie es erfunden.

Es wurde zu ihrer ersten wirklichen Leidenschaft - und blieb die einzige.

Nach ein paar Jahren hatte sie genug Erfahrungen in der Küche gesammelt, um sich beim "Ultimativen Dinner" - einem Fernseh-Format - zu bewerben.

Als alleinstehende Ärztin mit einigen publizierten Erfolgen auf dem Gebiet der Medizin gab es beim Casting keinerlei Probleme: Der Caster bemerkte zudem eine Art Verbissenheit, die sie zu ihrem Hobby hegte, so dass es bald eine klare Kiste war, sie in die Sendung zu nehmen.

Melanie traf auf zwei weitere Hobby-Köche und zwei Frauen, die ebenfalls gerne bis leidlich bis auch schlecht kochten. Bereits die erste Köchin kochte wesentlich schlechter als sie - das war ihr schnell klar - und sie äußerte, immer angefeuert durch den Redakteur der Sendung, ihre rücksichtslose Kritik.

Am Ende gewann sie die Koch-Runde - denn die Mitstreiter bewerteten

nur ihr Menü, nicht aber ihre verbissene und anstrengende Art. Es war ein Mann als Hobby-Koch am Start, der bei der Müllabfuhr arbeitete. Eine andere Konkurrentin war Hausfrau und Mutter. Melanie fegte sie alle weg - wie sie es ihr Leben lang mit anderen Menschen getan hatte.

Nach etwa zwei Monaten wurde die Sendung ausgestrahlt.

Nach dem ersten Dinner-Tag sprach kein Kollege mehr mit ihr ein Wort, das über das Berufliche hinaus ging. Am zweiten Tag sah jeder Patient sie schief und geradezu ängstlich an, der die Sendung gesehen hatte. Nachbarn grüßten sie nicht mehr.

Und das Internet kochte hoch vor Emotionen über diese emotionslose Frau.

Die Kommentare überschlugen sich und übertrafen sich in ihrer bösartigen Breite.

Melanie war ein Spiegel vor Augen gehalten worden, aber in diesen mochte sie nicht hinein sehen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben weinte sie. Trotzdem wollte sie den Spiegel übersehen.

Zu ihrer Beerdigung nach ihrem Suizid kam nicht ein einziger Mensch.

Guten Tag, Gruß Biene


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