Freitag, 25. November 2016

25. November 2016 - Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann: "Von 100 auf 10" - 2. und letzter Teil


Kurzgeschichte von
Silvia Gehrmann

2. und letzter Teil


Von 100 auf 10

Der flüchtende Koch packte in seinem ganz Mildreds Geschmack entsprechendem Zuhause ein paar Sachen in eine Reisetasche und ließ sich zum Flughafen fahren. Er würde den nächsten Flug nehmen, der ihn irgendwo hin führen würde.

Und falls er diese Aktion bald bereuen sollte, konnte er sicher sein, dass Mildred dafür Sorge tragen würde, dass sie sowohl den Laden in Schuss hielt als auch sein Verschwinden erklären könnte. Er hatte eine schöne Zeit vor sich, und den Stress hinterließ er ihr. Aber sternemässig lügen konnte sie mit Sicherheit, da vertraute er ihr vollends.

Der erste erreichbare Last-Minute-Flug führte ihn auf eine griechische Insel.

Nach einigem Suchen fand er ein Appartment, in dem ihm nur die Kochnische missfiel. Er würde sie  missachten, damit ihm auf keinen Fall ein Topf vom Herd auf die Füße fiel. Und seine Füße benutzte er in den Tagen ausgiebig: Er erkundete die Insel und genoss die salzige Luft des Meeres, auch, wenn ihn dies schon wieder an eine Küche erinnerte.

Es dauerte vier Tage, bis er die kleine Kneipe fand, in der Ari kochte. Immerhin musste auch Peter hin und wieder etwas essen, und dass dies nicht auf Sterne-Niveau sein musste, hatte ihm in den letzten Tagen das Überleben, auch das seiner Seele, gesichert.

Doch so bodenständig und einfach wie Ari hatte bislang niemand gekocht - und dennoch war dies Sterne verdächtiger als vieles andere, das er bei Kollegen genossen hatte - und ja, auch als das, was er selber zustande brachte.

Kein Schnickschnack, keine dekadenten Zutaten - einfach nur das, was das Meer hergab und vor Ort wuchs, benutzte Ari.

Peter konnte nicht umhin, Aris kleines Gasthaus wiederholt aufzusuchen. Und am dritten Tag lernte er den Künstler der einfachen Genussküche kennen. Er setzte sich zu ihm an den Tisch und gemeinsam sahen sie in den Sternenhimmel, beide tranken einfachen griechischen Landwein. Ari war viel älter als Peter und erzählte, dass seine Mutter ihn nach

Aristoteles Onassis benannt habe. Sie habe wohl gehofft, das Nomen est Omen ist -und er auch ein reicher Mann würde.

"Und stell dir vor, Peter", erzählte er, "ich bin ein reicher Mann geworden. Nicht, wenn man es nach Geldwerten bemisst, aber wenn ich all meine Glücksmomente zähle, dann kommt das schon hin."

Peter kehrte erst jeden Abend wieder, dann auch tagsüber - und Ari brachte ihm die einfache griechische Küche nahe und näher. Erstmals seit einer Ewigkeit identifizierte sich Peter wieder mit seinen Wurzeln als Koch und schwebte in einem ganz besonderen Himmel.
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Mit einem Ruck erwachte Peter und sah Mildred neben sich liegen. Unschuldig und süß sah das Biest aus. Auf seiner Zunge schmeckte er noch den Wein und den letzten Gang, den Ari ihm aus der Küche gebracht hatte.

Aber er wollte doch lieber die "500" Nächte im Jahr, den Stress ohne Ende, die anstehende Fernseh-Karriere, den Ruhm, seinen Stern behalten und einen zweiten hinzu gewinnen - um jeden Preis wollte er all dies, und sogar Mildred wollte er behalten, zumindest, solange es ging.

Er war noch nicht so weit wie Ari - aber irgendwann würde er ihm in der Wirklichkeit begegnen. Dann, wenn er bereit dazu war, einiges Überflüssiges vom Kochlöffel abfallen zu lassen. Und vielleicht war er selber Ari. - Aber noch nicht heute, nicht jetzt, nicht als Mann von fünfunddreissig Jahren. Erst musste er die eine Seite kennen lernen, bevor er sich dem Wesentlichen zuwenden konnte, der anderen, reichen Seite.

Ende

Copyright Silvia Gehrmann

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