Freitag, 25. November 2016

25. November 2016 - Kurzgeschichte von Silvia Gehrmann - "Von 100 auf 10" - 1. Teil

Kurzgeschichte von
Silvia Gehrmann


Von 100 auf 10

Peter sah sich in seiner Küche um und hätte es gern einmal einem berühmteren Kollegen gleich getan, der die Sachen von den Arbeitsflächen pfeffert und das Großmaul gibt, bis jedem nur noch die Spucke weg blieb.

Er hatte als Koch die Gelegenheit genutzt, und einen Ego-Lehrgang mitgemacht, der ihn auf den Trichter bringen sollte, seine Mannschaft mehr in den Griff zu bekommen als dies bislang der Fall war. Natürlich würde er nie ein Ego-Shooter werden, aber immerhin konnte er sich so verhalten,

streckte den rechten Arm weit aus und putzte die Platte einmal komplett blank. Die Beiköche, der Sous-Chef und die Auszubildenden sahen ihn überrascht bis komplett mundtot geworden an. Peter grinste nur innerlich und freute sich über sein neu gewonnenes Durchsetzungsvermögen, äußerlich setzte er eine bitterböse Miene auf.

Immerhin ging es für Peter darum, seinem Restaurant den Stern zu erhalten, womöglich einen zweiten hinzu zu gewinnen und demnächst würde er noch eine Fernseh-Show bekommen. Die Folge Null war probeweise bereits über den Sender gelaufen und beim Publikum gut angekommen.

Neue Köche braucht das Land, dachte er - aber irgendwann würde er auch nicht mehr der neue sein. Also wehrte er den Schlendrian ab, machte sich endlich zum Küchen-Boss und nahm sich vor, sich bald auch täglich so zu benehmen.

Manche der Leutchen brauchten eben ihre permanenten Ansagen in einer gewissen Frequenz, denn unter dieser gaben sie sich gehörlos.

Aber was wollte Peter wirklich? Er hatte es vergessen. In seiner Zeit als Koch-Neuling in Frankreich hatte er die schöne Mildred kennen gelernt. und damals fand er, dass sie nicht nur gut aussah, sondern auch hervorragend in seine Karrierepläne passte. Sie war eine Frau von Welt, ein Happen für die Augen der Gäste - und so charmant, wie jeder sich eine Französin vorstellte.

Mildred wurde seine Frau und managte schon lange sein Restaurant, begrüßte die Gäste, aber Peter hatte den Verdacht, dass manche Geschäftsessen wichtiger Männer nur ihretwegen in seinem Restaurant stattfanden.

Natürlich kochte er sensationell, das war ihm klar - doch trotz allem geschah es irgendwann, dass er sein eigenes Essen nicht mehr mochte, Mildred ihm gleichgültig wurde und er sich nach einer von fünfhundert Nächten, die ein Jahr offenbar hatte,

tot neben seiner Lieblings-Bratpfanne liegen sah. Warum eigentlich war er nicht Maurer oder Briefträger geworden?

Und nun sollte noch eine TV-Sendung hinzukommen, die ihn an den Tagen zwischen den fünfhundert Nächten beschäftigen würde. Ein Traum für manchen, für viele ... er sah einen Albtraum auf sich zukommen.

Welcher Kochlöffel und welche Salatschüssel hatte ihn dazu bewogen, so gut zu kochen, dass alle Welt nicht nur sein Essen genoss, sondern ganz nebenbei sein Leben kaputt machte?

Er verdiente jede Menge Geld, aber Zeit, das auszugeben, hatte nur Mildred. Wie eine Königin residierte sie jeden Abend in seinem Sterne-Tempel, und keine Königin durfte sich zweimal in demselben Outfit zeigen. Diese Oberflächlichkeit zerrte an seinen Nerven, die bis zum Anschlag gespannt waren und bald zu platzen drohten.

An einer Curry-Wurst-Bude kam er später und langsam von den trüben Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Er kippte ein Bier in drei Zügen runter und holte sich eine neue Dose.

Er brauchte unbedingt und jetzt eine Auszeit. Ohne Mildred, ohne Kochgeschirr, ohne dekadente Zutaten und vor allem ohne Angst, seinen Stern zu verlieren - denn der war ihm in diesem Moment gleichgültiger als alles andere. Und so fern der normalen Atmosphäre, wie es nur Sterne sind.

Nach der zweiten kaufte er eine dritte Dose Bier, hatte die Curry-Wurst genossen und war tief entschlossen,

zu flüchten. Er war nicht verrückt, er war nur vollkommen fertig. Und er würde sich irgendeinen Menschen suchen, der ihn vielleicht verstehen konnte. Wenn er ihn nicht fand, konnte er immer noch sich selber finden: Das war ohnehin an der Zeit.

Fortsetzung folgt

Copyright: Silvia Gehrmann






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