Freitag, 7. Juli 2023

7. Juli 2023 - Mein Ich von heute gegenüber dem von früher ...




Mein Ich von heute gegenüber dem von früher  

Mein erstes Ich, an das ich mich erinnere, war u. a. die Loyalität zu meinem Onkel Franz. Wie üblich nahm mich der jüngere Bruder meines Vaters mit auf Wochenmärkte und drapierte meine jungen, noch sehr grünen Ohren mit Kirschen. Ich sehe noch heute die Kirschen in meinen Ohren baumeln, während die Zeit längst eine andere geworden ist - und nicht mehr sehr rosarot ist wie es diese unschuldigen Früchte sind.

Manchmal durfte ich Franz in seine Stammkneipe (Gasthaus) begleiten, und das war ein Highlight. Highlight sagt man heute - früher? Ja, was hat man früher dazu gesagt. Ich habe es vergessen. Vielleicht: "Der Knüller des Tages"?

An einen frühen Abend oder eher späten Nachmittag in der Möllmann-Kneipe kann ich mich gut erinnern: es ging darum, ein kleines Mädchen per Bestechung zu beeinflussen. Herr Möllmann fragte mich, wen ich lieber hätte - ihn oder meinen Onkel. Dazu muss ich anfügen, dass Herr Möllmann beinahe auch ein Familien-Mitglied war (er und seine Schwester hatten meine Mutter aufgenommen, als sie noch minderjährig und noch lange nicht meine Mutter war,  nachdem sie via Dänemark aus Ostpreußen geflüchtet war - und ihre eigenen Verwandten im Ruhrgebiet die Aufnahme irgendwie verbockt hatten).

Herr Möllmann hielt mir eine Tafel Schokolade hin, die ihn als Wahlkampfhelferin unterstützen sollte. 

Was ich damals gedacht haben mochte, kann ich natürlich nicht erinnern. Aber: eine Tafel Schokolade gegen die bekennende Liebe zu meinem Onkel erschien mir vermutlich sehr dürftig zu sein.

Ich wählte also meinen Onkel. Und alle, alle waren zufrieden mit meiner Wahl. Auch Herr Möllmann. So sehr, als hätte ich am Ende einen Pokal gewonnen ... im übrigen bekam ich die Tafel Schokolade trotzdem.

Man stellt kleine und auch große Mädchen vor keine Wahl!

Mein Ich von heute hätte sie vielleicht irregeführt. Mein Ich von damals hat mit seinem kleinen Intellekt nur gewählt, was das Gefühl mir vorgegeben hat. Und vermutlich war ich bereits damals - wie ich mich kenne - sehr empört, solch eine Frage überhaupt gestellt zu bekommen  ...


Später

hat ein vorübergehendes Gefühl oftmals über die immer vorhandene, aber nicht immer genutzte Vernunft gesiegt. Ich bin ein Vernunfts- und kein Gefühl-Mensch. Aber: ab wann ist man das eine und wann überwiegt trotzdem das nicht so oft Genutzte?

Die Entscheidungen wurden schwieriger, und sie haben sich nicht mehr so eindeutig als ausgewogen offenbart.

Wirr im Kopf und manchmal auch völlig klar habe ich Entscheidungen getroffen, die andere, aber mich nicht glücklich gemacht haben. Ich habe geliebt, und aus lauter Liebe zu meiner Oma - der größten meines Lebens - bin ich in die Irre gelaufen. Sie hat es nicht gewollt, ich habe es nicht gewollt, aber es ist passiert. Und es war meine eigene Schuld. Nicht ihre.

In der Mitte des Lebens habe ich - meine Oma war bereits verstorben - wiederum eine falsche Entscheidung getroffen und bin an die Wand gerannt. Ich habe mir den Kopf leicht eingestoßen, aber es ging immer weiter -

meistens gut, manchmal aber hat das Leben die unvermeidlichen Wunden hinterlassen, die man gerne umschifft hätte.


Mein Ich von heute

hat sich Pflaster gekauft, um die blutigen Schräglagen zu verdecken. Mein Ich von heute wäre naturgemäß klüger, und nur die Wahl zwischen

Schokolade und meinem Onkel Franz

würde es niemals zurücknehmen.

Anderes schon! An einigen entscheidenden Stellen bin ich falsch abgebogen. Vielleicht, weil ich eine Abkürzung nehmen wollte, vielleicht, weil ich dumm war.

Selbstverständlich war nicht alles falsch, aber:

wenn man sein Leben rückwärts leben könnte,

wäre es einfacher. 

Und es wäre schokoladenreicher, obwohl ich niemals Schokolade gegen Liebe tauschen würde.


Guten Tag, Gruß Silvia


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