Freitag, 10. Juni 2022

10. Juni 2022 - Eine sehr kurze Kurzgeschichte: Der Zwillingsbruder


Kurzgeschichte
Der Zwillingsbruder

Wir waren die Ausnahme von der Zwillings-Regel, die besagt, dass sich gerade diese Geschwister näher stehen als ihnen sonst irgendjemand auf der Welt nahe steht.

Nils war mir zeitlebens so fremd, als wären wir in zwei verschiedenen Kulturen aufgewachsen. Aber wir wurden in einem durchschnittlich liebevollen Elternhaus gemeinsam groß. Bereits als wir drei Jahre alt waren, mussten unsere Eltern uns räumlich trennen - denn in einem gemeinsamen Kinderzimmer gab es immer wieder böse Raufereien. Nils packte seine teuflische Seite aus und schlug mir mit einem Polizei-Spielzeugauto auf den Kopf oder versuchte, mich mit dem Strickgarn unserer Mutter zu erhängen.

Ich, Pit, bin 5 Minuten älter als Nils. Und ich wurde mehr und mehr zu seinem Lieblings-Opfer. Aber ich war nicht sein einziges. Als er sechs Jahre alt war,

stellte er unserer Großtante Evelin ein Beinchen. Er hat es sicher nur gehofft und nicht beabsichtigt, aber dadurch stürzte sie auf einer Treppe zu Tode. Er grinste breit und begann gleich danach zu schreien, ich hätte die Tante zum Sturz gebracht. Ich bekam eine Tracht Prügel und Tante Evelin ein Begräbnis der Sonderklasse "Schuldgefühle" - von meinen Eltern finanziert.

In der Schule musste man uns getrennt setzen. Nils scharte in den Pausen als Mittelpunkt die Mitschüler um sich herum, während ich abseits mein Pausenbrot abknabberte. Es waren Jahre voller Demütigungen und Traurigkeit für mich.

Zu unserer gemeinsamen Konfirmation schüttete Nils dem Pastor ein Abführmittel in den Messwein. Weil ihm das so gut gefiel, benutzte er das gleiche probate Mittel für die Erwachsenen, die sich an diesem Tag  die Klo-Klinke in die Hände geben mussten - und die eigentlich unsere kirchliche Feier mit uns begehen wollten. Die Schuldfrage klärte er völlig unschuldig: "Pit war es."

So setzten sich seine Übeltaten im Laufe der Zeit fort. An einem Tag schnappte er sich, kaum 16jährig, das Auto unserer Eltern und bretterte damit so lange durch die Gegend, bis er an einem Baum kleben blieb - das Auto war Schrott, Nils kletterte lachend aus dem Blechhaufen heraus.

Später gefiel ihm meine Freundin Charlotte so gut, dass er es fertigbrachte, sie auf seine Seite und in sein Bett zu ziehen. Sie heirateten, bekamen Kinder - und ich durfte

wieder einmal als armes Opfer in die Röhre gucken.


Finale

Da liegt er nun vor mir, mein lieber Bruder Nils: mausetot.

Es ist einerseits eine seltsame Nummer, mit diesem Toten sich auch selber ins tödlich getroffene Gesicht zu blicken. So also werde ich aussehen, wenn ich tot bin ... so bleich, so wächsern, so unaufweckbar.

Aber ich habe der Welt einen guten Dienst erwiesen, weil ich schließlich immer der Engel der Familie war und sie alle von Nils befreit habe.

Sie werden mir sehr dankbar sein.

Über mir donnert es gerade. Die Polizei führt mich ab. Meine Eltern weinen. "Er war schon immer böse ...", klagt meine Mutter. Sie weint, und es hört sich an, als könne sie ihre Tränen nie mehr trocknen.


ENDE - Copyright Silvia Gehrmann

Guten Tag, Gruß Silvia 

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