Als meine Mutter ihren Sohn verlor ...
Von allen Unglücken, die einer Frau (natürlich auch einem Mann - aber hier geht es um meine Mutter) im Leben zustoßen können, ist es das schlimmste, ein Kind zu verlieren. Meine Mutter verlor ihren Sohn, der mein Bruder war. Heinz wurde nur 19 Jahre alt und starb bei einem Hotelbrand.
Danach war für meine Mutter das Leben nie mehr wie es vorher war. Der Einschnitt machte aus ihr einen anderen Menschen, und die frühere, lebenslustige Christel kam nur noch selten und erst nach Jahren überhaupt erstmals wieder zum Vorschein.
Sie schaffte es nur unter größter Mühe, der Beerdigung beizuwohnen - die "Nachfeier" ging über ihre Kräfte. Über meine auch, obwohl und wohl auch, weil ich anwesend war - denn meine Mutter reklamierte Heinz als allein ihren Verstorbenen. Meinen Vater bezog sie mit ein, mich allerdings nicht wirklich.
Zu Weihnachten hatte mein Bruder ihr die Pudelhündin "Panni" geschenkt, am 30. Januar des Folgejahres verunglückte er. Panni war daher nicht nur ein letztes Andenken an Heinz, ihr kam viel größere Bedeutung zu:
täglich gingen sie und der kleine Hund zum Friedhof, und das über viele Jahre - bis mein Vater und sie sich entschlossen, von Dortmund in die Nähe von Zell an der Mosel zu ziehen. Das größte Problem war für sie, Heinz' Grab zurücklassen zu müssen ...
Ein sinnloser Tod, der viel zerstört hat ...
Christel hatte viele Jahre nur ein einziges Gesprächsthema: Heinz.
Zunächst hörten Freunde und Verwandte ihr gern zu, trösteten sie und wollten helfen: aber man kann niemandem helfen, der in seinem Leid versinkt. Sie war die Ertrinkende, die überhaupt in keinem Wasser lag ... und die keinen Strohhalm annahm, den man ihr hinhielt, geschweige denn einen großen Ast, der sie hätte retten können.
Vielleicht kann man auch keiner Mutter helfen, die ihr Kind verloren hat ...
Im Laufe der Zeit nahm das Interesse anderer an diesen "Gesprächen" immens ab. Einige wandten sich von ihr ab ...
Nach Heinz' Tod war sie bei einer Psychiaterin in Behandlung: diese wollte ihr nicht die Trauer nehmen, sondern den Lebenswillen und -mut zurückgeben. Es war ein mühseliges und aussichtsloses Unterfangen. Schließlich bat mich die Ärztin verzweifelt und am Ende ihrer Weisheit, meine Mutter einmal zu begleiten ...
da saß nun meine stumme Mutter, die überall und immer über Heinz sprach, und sagte kein Wort. So sei sie während jeder Sitzung, sagte die Psychiaterin ...
Ich weiß gar nicht mehr, wie meine Mama überhaupt in diese Behandlung "hineingeraten" ist. Aber es sah so aus, als wäre das nicht ihr eigener Entschluss gewesen ... denke ich.
Im Laufe der Jahre
hat meine Mutter hin und wieder einen Tag "Urlaub" von ihrer Trauer genommen und an diesen viel von ihrer Fröhlichkeit und ihrem (manchmal beißenden) Humor zurückgewonnen. Da sie nun weit entfernt von mir lebte, telefonierten wir viele Jahre lang täglich, und ich besuchte sie und meinen Vater monatlich ... und wurden zu einem Herz und einer Seele.
Das hat mich sehr gefreut, denn wir waren nicht immer so innig miteinander: direkt nach Heinz' Tod hat sie mir die schlimmsten Worte (es waren nur fünf) meines Lebens an den Kopf geworfen,
Sie selber stritt stets ab, solche Worte überhaupt je gebraucht zu haben. Insofern waren sie folglich auch nicht mehr wahr:
ich hatte ihr verziehen, und sie hatte sie offenbar vergessen, weil sie es für unmöglich hielt, so etwas gesagt zu haben.
18. Juli 2010
Sie starb mit 80 Jahren. Und sie starb in Frieden. Natürlich hat sie als Atheistin nicht daran geglaubt, nun all ihre Lieben und vor allem Heinz auf der anderen Seite wiederzusehen ... aber wer weiß, ob sie nicht doch ein wenig darauf gehofft hat.
Dann hätte sie neben zwei anderen Brüdern auch ihren Bruder Heinz wieder getroffen: nach dem Tod meines Bruders Heinz hat sie es tief bedauert, ihn nach ihrem Lieblingsbruder benannt zu haben: es sei ein schlechtes Omen gewesen. Denn alle ihre drei Brüder starben jung im 2. Weltkrieg.
Ich wünsche allen Müttern und Vätern, denen dieses harte Schicksal nicht erspart bleibt, viel Kraft. Und vergesst eure anderen Kinder nicht ...
mein Vater hat es so gehalten, meine Mutter hat es nur zum Teil geschafft. Aber bevor sie starb, fanden wir wieder zueinander. Das ist ein gutes Gefühl.
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