Mein Bruder Heinz
Ich hatte meinen Haustürschlüssel zur elterlichen Wohnung vergessen. Warum ich mich daran machte, ein Sicherheitsschloss knacken zu wollen, ist mir bis heute ein Rätsel. Als "Einbrecherin" war ich die absolut falsche Person mit viel zu wenig krimineller Energie. Aber dieser Tag war ohnehin nicht mein Tag, das hatte ich bereits am frühen Morgen jenes 30. Januars gewusst. Und als ich fluchend vor der verschlossenen Tür stand, bewahrheiteten sich noch unbestimmte böse Vorahnungen minütlich mehr.
Dass er am Ende der schrecklichste Tag meines Lebens wurde, konnte ich nicht ahnen.
Damit hätte ich auch nicht gerechnet. Aber wer rechnet schon mit dem Unvorhersehbaren? Wer rechnet damit, dass das Leben sich von einer auf die andere Minute total ändert?
Diese Änderung war zu dem Zeitpunkt, als ich einbrechend vor der Tür stand, bereits eingetreten.
Ich wusste nur noch nichts davon.
Anstatt wegen des vergessenen Schlüssels in Stress zu geraten, hätte ich besser noch einige Minuten meine Ahnungslosigkeit genossen. Ich hätte mich auf die Treppe setzen und meine Beine in der Luft baumeln lassen können. Oder anstatt mich über Nonsens zu ärgern, ein paar Luftschlösser gebaut.
Dann kam mein Vater
ins Haus, obwohl es noch gar nicht seine Zeit war. Ich dachte, gut, Rettung naht! Er hat einen Schlüssel. Welche Rettung? Was ist schon ein vergessener Schlüssel? Später habe ich mich oft genau daran oft erinnert und versucht, mir kleine Hindernisse meines Lebens danach nicht wirklich zu Herzen zu nehmen. Ein wenig ist mir das bis heute gelungen.
Wie ein Retter sah mein Vater allerdings überhaupt nicht aus, eher wie ein geprügelter Hund. So tief gebeugt in seiner Körperhaltung hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen und erlebt. Er ignorierte meinen Einbruchsversuch, und sagte mit tiefer, aber tonloser Stimme:
Heinz ist tot!
Heinz ist tot? Nein, ich hatte ihn doch noch vor zwei Tagen gesund und munter und lebenslustig und jung gesehen, und ich schüttelte den Kopf. Mein Vater nahm mich in den Arm, er schüttelte mich verzweifelt:
Heinz ist tot!
Daraufhin begann ich zu schreien. Ich glaube, ich habe nie zuvor und nie mehr danach derart geschrien. Mein Vater war nicht allein, aber das bemerkte ich erst, als er zu seinem Freund sagte:
"Um die Ecke ist unser Internist. Bring mein Mädchen dorthin, bitte."
Unter meinem starken Protest gab mir unser Hausarzt zwei Spritzen.
Der Arzt hat mich damit für ein paar Stunden aus dem "Verkehr" gezogen
Eine Nachbarin nahm mich mit in ihre Wohnung, in der sie mich auf ihre Wohnzimmer-Couch verfrachtete und eine Tasse Kakao brachte. Ich trat aber einfach nur noch weg, fiel in einen seligen Schlaf,
in dem das zuvor Gehörte zu einer Illusion wurde.
Als ich wieder wach wurde, glaubte ich noch immer, alles sei nicht wahr, ich müsse mich furchtbar verhört haben ... aber die zwei Spritzen (ich habe nie erfahren, was er mir gegeben hat) taten einen richtig guten Job:
ich war ruhig, sehr ruhig, tief ruhig ... beinahe auch bereits verstorben.
Am Abend dieses Tages
Inzwischen war auch meine Mutter zu Hause. Meine Oma kam. Und mein Onkel, der Bruder meines Vaters, mit seiner Frau. Ich saß dazwischen wie Falschgeld, kaum fähig, die Münzen zu einem Gedanken zusammenzuzählen.
Heinz
war unser Sonnenschein gewesen. Er hatte die Fähigkeit gehabt, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen und er konnte mit seinem Lachen die ganze Welt anstecken.
Er steckte voller Zukunftspläne, aber nahm diese nicht verbissen in Angriff, sondern genau so, wie es sich eben ergeben könnte. Nun ergab sich gar nichts mehr für ihn.
Diese Endgültigkeit ist wohl der größte Schmerz. Und das unvorbereitet für uns alle: denn er starb nicht an einer Krankheit,
sondern in einem Hotelbrand.
Auf seiner Beerdigung war die Trauerhalle nicht nur überfüllt, es war auch draußen kein Platz mehr für die vielen Trauergäste. Er hatte so viele Freunde, und die waren nun ehrlich traurig, betroffen und gewillt, ihn nie zu vergessen.
Das werden viele auch sicher nicht getan haben.
Heinz wurde nur 19 Jahre alt.
Eigentlich sollte dieser Beitrag mehr von Heinz als von mir selber erzählen, und ich hatte einen völlig anderen Text geplant. Aber bis heute fällt es mir schwer, über Einzelheiten seines Todes zu sprechen oder zu schreiben. Genau so schwer fällt es mir, über die tausend Episoden zu schreiben, die mir in Verbindung mit meinem Bruder in den Sinn kommen ... und die seine Einzigartigkeit (für mich) beschreiben.
Ich wollte, er würde selbst dann noch leben ... wenn uns die Jahre irgendwie entzweit hätten ... was nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich gewesen wäre.
Für dich, mein einziger Bruder!
Als Einzelkind danach hatte ich es schwer, weil du mich nicht mehr in meinen Verrücktheiten unterstützt hast - und ich dich nicht mehr unterstützen konnte.
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