Samstag, 2. Mai 2020

2. Mai 2020 - Erinnerung ist kein Paradies

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Jean Paul (1763 - 1825)

Erinnerung ist kein Paradies

Wenn ich diese Kolumne schreibe, so ist der Inhalt zu allererst nur für mich selber gültig und auf andere Menschen nicht unbedingt, sondern nur vielleicht übertragbar.

Ihnen scheint das Zitat von Jean Paul vielleicht zuzusagen und zu gefallen. Für mich ist es ein falsches.

Zwar kann die Erinnerung irgendwann zu einem Paradies werden, aber dazu muss sie eine Menge Patina ansetzen, muss Zeit ins Land streichen lassen, viel Zeit. Zeit heilt auch keine Wunden, sie ist nur ein Pflaster für diese - und das bleibt sichtbar. Man sieht es nicht täglich, weil die Wunde so tief verborgen sitzt, dass sie nicht für jeden erkennbar ist.  Aber hin und wieder sieht man die Wunden. Oder man zeigt sie freiwillig und für einen kleinen Moment der Schwäche auch ganz gerne.

Selbst wenn ich heute an den Tod meines Bruders und insbesondere an ihn selber denke, der mit 19 Jahren bei einem Hotelbrand ums Leben kam, kommt mir als erstes die Erinnerung von der Todesnachricht in den Sinn. Als nächstes die von seiner Beerdigung. Und an unsere verzweifelten Tage zwischen Tod und Bestattung.

Da ist weit und breit kein Paradies in Sicht, denn mir fehlt der Zugang zu den schönen Erinnerungen, die es natürlich auch gibt, aber die tief unter dem Schmerz versteckt sind. Bis heute sehe ich mir nicht gern Fotos von Heinz an - und der Brand ist ein paar Jahrzehnte her.

Meine Tränen kommen mir in den Sinn. Sie waren derart zahlreich, dass ich für ein ganzes Leben genug geweint habe - und seitdem keine Tränen mehr habe. Mir steht hier und da mal die Pipi in den Augen,

aber es gibt keinen erleichternden Tränenfluss.

Ich habe nicht geweint, als meine Oma starb. Nicht als mein Vater oder zuletzt meine Mutter starben. Zumindest meine Oma und meine Mutter waren alt, als sie gehen mussten. Meine Oma war auch schon lange vor ihrem Tod krank. Meine Mutter war auch immerhin 80 Jahre alt, aber sie starb nach kurzer Krankheit.

Meine Oma ist die einzige, an die ich in schönen Erinnerungen schwelge, und das oft und gerne. Sie war aber nicht nur lange krank, sondern hatte auch eine Art von Demenz: Arteriosklerose. Ihr Tod kam daher als ein Guter, als sie 84 Jahre alt war.  Bei meinen Eltern kommen mir auch nur ihre letzten Zeiten in den Kopf, die, als sie krank waren.

Den bislang letzten Tod, den ich verkraften musste, war der von meinem Yorkshire-Terrier Robin. Er wurde 15 Jahre und 8 Monate alt,



und der Zeitpunkt seines Todes kam viel zu früh, trotz der vielen Hundejahre zu früh, und zu plötzlich.

Wenn ich an Robin denke, denke ich nur an unsere gemeinsamen letzten Stunden. Und die fanden in einer Tierklinik statt.

Kommt es ein bisschen besser, dann denke ich an seine letzten 5 Monate, in denen er blind war, weil ihm seine Augen herausoperiert werden mussten - und er hasste diese Blindheit. Wir hatten dennoch immens viele intensive Momente in diesen 5 Monaten, aber es war absehbar,

dass seine Nierenwerte ihn bald von seiner verhassten Blindheit erlösen würden.

Ganz egoistisch gedacht, ging es mir dann doch viel zu schnell. Er hätte sich vielleicht noch besser an seine Blindheit gewöhnt, hätte sie vielleicht irgendwann als etwas Natürliches hingenommen. Auf dem Weg dahin war er ein klein wenig.

Die quälenden Gedanken an seine letzten Stunden kommen an jedem Abend. Manchmal kann ich sie wegwischen,

manchmal nicht.

Ich warte auf das Paradies der Erinnerungen. Ob es kommt? Ich habe doch so unendlich schöne Erinnerungen an Robin. In den Jahren haben wir nur Gutes miteinander erlebt und hatten jede Menge Spaß -

warum zum Teufel erinnere ich diese Erinnerungen, aber denke immer nur an die letzten Stunden?


Guten Tag, Gruß Silvia 


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