Samstag, 20. Juli 2019

20. Juli 2019 - Interview vom 15. Juli 2019 - Sie möchte anonym bleiben . Sie hat Anorexia nervosa

Foto: Von meiner Interview-Partnerin

Telefon-Interview . Sie möchte anonym bleiben . Sie hat Anorexia nervosa


Wenn es überhaupt etwas Traurigeres gibt als ein verkanntes Genie,
dann ist es ein unverstandener Magen.
Honoré de Balzac (1799 - 1850), französischer Philosoph und Romanautor

Es ist relativ einfach ein Interview über allgemeine Themen, Neuigkeiten der interviewten Person oder ihre Wünsche zu führen -

relativ schwierig ist es, eines mit einer Frau zu führen - und besonders dies am Ende schriftlich festzuhalten - die Anorexia nervosa hat.

Meine Interviewpartnerin lebt im Münsterland, ist 61 Jahre alt, 166 cm groß und aktuell 42,6 kg schwer.

In ihrer Jugendzeit, allgemein Pubertät genannt, hat ihre Mutter großen Wert auf ihre Ernährung gelegt, und natürlich wollte sie, dass sie und ihre zwei anderen Kinder nicht dick werden. Meine Protagonistin glich in der Hinsicht, dass in einem gewissen Alter alle Eltern definitiv im Unrecht sind, den meisten anderen Jugendlichen:

Sie schlang Essen unkontrolliert in sich hinein und wurde dicker.

Mit 20 Jahren hatte sie ein Schlüsselerlebnis: Ein Kollege hat für alle hörbar gesagt:

"Sie ist fett geworden."

Damals wog sie 70 Kilogramm.

Als Schreiberin des Interviews möchte ich hier kurz eingreifen, denn 70 kg sind zwar kein Leichtgewicht für ihre Größe, aber fett sieht auch anders aus.

Doch meine Interview-Partnerin reagierte damals prompt, als hätte sie nur auf einen äußeren und schmerzlichen Anstoß zum Abnehmen gewartet.

Anstatt es als dummes Gerede des Kollegen abzutun, begann sie direkt mit der Aktion: Ich nehme jetzt an Gewicht ab!

Sie aß fortan nur noch morgens und mittags. Erst war alles positiv, und die freundlichen Rückmeldungen auf eine erfolgreiche Gewichtsabnahme kamen nach 7 Kilogramm und stimmten sie glücklich.

Nach einem Jahr hatte sie 25 Kilo abgenommen.



Wenn der Magen Geige spielt, fängt das Gehirn einen bösen Tanz an.
Polybios Dimitrakopoulos (1864 - 1922), griechischer Theaterschriftsteller

Damals konnte sie ihr Abnehm-Programm ohne große Probleme durchführen: Ihre Eltern lebten weit weg in einem anderen Land, die Geschwister wohnten ebenfalls nicht in ihrer Nähe. Außerdem war sie Single, so dass auch kein Mann ein Wörtchen mitreden oder dagegen reden konnte. All ihre Gedanken kreisten ums Nicht-Essen. Und ihren Plan wollte sie ehrgeizig - wie sie auch in allen anderen Bereichen war und ist - weiter verfolgen.

Doch inzwischen sind 40 Jahre vergangen, und die Anorexia nervosa ist noch immer ihr Begleiter.

Die Magersucht hat sich fest in ihrem Kopf etabliert.

Auf die Frage nach ihrer Tagesration an Essbarem antwortet sie: "Ich esse alles, aber von allem nur wenig. Von einer Tafel Schokolade zum Beispiel nur ein einziges Stückchen - oder; an einem After Eight-Täfelchen halte ich mich eine halbe Stunde fest."

Sie gibt an, dass sie auf 1200 Kilokalorien pro Tag und an normalen Tagen kommt.

Ich freue mich jedoch, von ihr zu hören, dass sie unter keinen anderen Zwangsstörungen leidet - wie viele Anorexie-Erkrankte.

Dünnsein bei anderen Menschen sieht sie durchaus, bei sich selber und im Spiegel nicht. Auf Fotos allerdings auch an sich selber. Ich kenne viele aktuelle Fotos, und ich möchte ihr versichern: Sie ist viel zu dünn!

Leider hat sie in den 40 Jahren, die diese Krankheit andauert, auch eine Krebs-Erkrankung durchmachen müssen - und ein paar weitere Operationen aushalten müssen.

Trotzdem hat sie inmitten dieser Jahrzehnte - für etwa 10 Jahre - 50 Kilogramm auf die Waage gebracht.

Eine ambulante Therapie gegen die Anorexie brachte keinen Erfolg.

Aber: Es gibt Hoffnung, ein Licht am Horizont, das am Ende ihrem Körper gut tun kann:

Ab Mitte Januar 2020 wird sie eine stationäre Therapie gegen die lang anhaltende Anorexie angehen. Diese wird mindestens 6 Wochen dauern, wovon sie in den ersten 2 Wochen keinen Kontakt zur Außenwelt haben darf.


Hoffnung ist oft ein Jagdhund ohne Spur.
William Shakespeare (1564 - 1616), englischer Dichter, Dramatiker, Schauspieler und Theaterleiter

Da meine Interview-Partnerin mit ihrem Leben ansonsten sehr zufrieden ist und sie ein ausgesprochen stabiles soziales Umfeld hat,

ist die Hoffnung durchaus ein Wort, dass ich hier zum Schluss und als Wunsch für ein Gelingen der Therapie benutzen darf:

Ich wünsche ihr alles Gute, viel Erfolg - und dass der Ehrgeiz, der ihr Lebensbegleiter ist, den Sieg über die Magersucht davon tragen wird.

Überdies bedanke ich mich für dieses ehrliche Interview. Es ist eine kleine Vorübung für die Therapie, in der ihr noch weitaus mehr an Ehrlichkeit - besonders sich selbst gegenüber - abverlangt werden wird.


Guten Tag, Gruß Silvia

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