Sonntag, 25. September 2016

25. September 2016 - Kurzgeschichte "Am Rand" (Der Obdachlose) - Teil 3


Am Rand

Robert hatte eine halbe Nacht bewusstlos in einem Hauseingang gelegen, ehe ihn gegen Morgen ein Hausbewohner fand. Als er endlich wieder zu sich kam, lag er in einem hellen und freundlichen Krankenzimmer. Jedenfalls empfand Robert den Raum so, denn er konnte sich nicht erinnern, in den letzten zwanzig Jahren einmal auch nur einen Tag in einer sauberen Umgebung verbracht zu haben. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, dass er sich nicht wirklich  gut fühlte, denn auch dieses unbestimmte Gefühl, sehr krank zu sein, war seit langem sein Begleiter.

Und so kam es bald schon knüppeldick, denn neben diversen kleineren Erkrankungen hatte er eine Leberzirrhose. Ein Tribut, den viele zahlten, wenn sie auf den Straßen lebten, denn ohne Alkohol war dieses Dasein überhaupt nicht zu ertragen. Sie tranken sich alle den Frust und die Kälte weg, die sowohl äußerlich oft präsent war als auch tief im Innern Besitz von ihnen ergriffen hatte.

An Paula dachte er gar nicht, eher an Alkohol. Man gab ihm ein Mittel gegen die heftigsten Entzugserscheinungen und dieses kroch nun durch seine verdorrten Venen in seinen Körper. Hier war der richtige Ort, um zu sterben, hier würde er vielleicht auch sterben. Nur die Angst, man könne ihn schnell wieder entlassen, beherrschte seine Gedanken.

Inmitten einer dieser tieftraurigen Gedankengänge und nach mehreren Tagen, öffnete sich plötzlich die Zimmer-Tür

und hinein kam Paula.

Paula hatte sich gefragt, was sie an diesem Mann faszinierte und warum sie ihn so verzweifelt gesucht hatte, aber bislang nur eine wenig zufriedenstellende Antwort darauf gefunden:

Sie hatte sich vorgenommen, eine arme Seele zu retten! Ganz egoistisch sollte er ihr, Paula, später einmal dankbar sein, nachdem sie ihn aus dem Sumpf der Straße gezogen und vom Alkohol weg gebracht hätte. Sie war sechzehn und ihr Kopf einerseits voller wirrer Gedanken, andererseits wollte sie eine Heldin werden. Man würde sie bewundern, wenn sie diesen Mann rettete.

Er zeigte auf den Stuhl an seinem Bett und gab ihr langsam eine Hand.

Und dies war der Tag, an dem sie begannen, tiefe Gespräche miteinander zu führen und Robert die zu allen guten Taten entschlossene Paula in die Welt der Philosophie einführte. Sie spürte schnell, dass nicht sie seine Retterin war, sondern er ihre Rettung.

Von ihm erfuhr sie viel über ihren gegenwärtigen Zustand der Pubertät und sogar über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse wurde sie sich endlich im Klaren. So ganz nebenbei drang sie tief in den Sinn des Lebens ein,

und das, obwohl ihr zu jeder Minute klar war, dass er selber diesen längst aus den Augen verloren hatte.

Kaum konnte sie es erwarten, ihn täglich nach der Schule zu besuchen.

Und eines Tages erzählte sie sogar ihrer Mutter von ihrer Bekanntschaft - oder war es doch schon eine Freundschaft? - mit dem so viel älteren Mann. Anna, ihre Mutter, machte zunächst ein entsetztes Gesicht, holte dann zu einem langen Vortrag aus - und erkannte letztendlich,

dass dieser Mann keine anderen Absichten hegte als sich mit einem menschlichen Wesen zu unterhalten und es vielleicht sogar anleiten konnte, auf einem richtigen Weg weiter zu gehen.

Robert selber sah es in etwa genau so: Noch einmal in seinem Leben wurde er wichtig für einen anderen Menschen. Und das, obwohl sein eigenes Leben wohl bald vorbei sein könnte.

Romantische Gefühle hatte er nicht für die blutjunge Paula, eher väterliche oder die eines Lehrers, der endlich erfuhr, dass sein Wissen Früchte tragen konnte, wenn man es nur behutsam genug vermittelte und den anderen selber auf Antworten kommen ließ, ohne ihn zu drängen oder sie ihm vorzugeben.

Natürlich wollte Anna diesen Mann kennen lernen. Das war sie einerseits ihrer Mutterrolle schuldig, wie Paula böse meinte, aber andererseits war es ihr durchaus ein Bedürfnis, den Umgang ihrer Tochter mit einem erwachsenen Mann, der zudem noch auf der Straße lebte, zu kontrollieren.

"Ja, gerne kannst du deine Mutter mitbringen", sagte Robert, als Paula ihm von dem Gespräch mit ihr berichtete.

Fortsetzung folgt

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Silvia Gehrmann

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