Samstag, 24. September 2016

24. September 2016 - Kurzgeschichten: "Am Rand" Teil 2

Kurzgeschichte von
Silvia Gehrmann

Teil 2


Am Rand

Paula war in dem schwierigen Alter von sechzehn Jahren. Sie hatte sich noch lange nicht gefunden, sondern glaubte sich verloren. Dass all die Schwierigkeiten nur in der Pubertät begründet waren, erzählte ihr niemand so schlüssig, dass sie es glauben konnte. Nicht ihre Mutter und schon gar nicht ihr Vater, der ein beruflicher Dauer-Reisender war.

Natürlich wusste sie selber, dass es die Pubertät gibt,  in der Schule sprachen die Lehrer mit ihnen darüber. Und ihr war klar, dass sie teilweise ein kleines Monster war. Aber ihr gesamtes Ich-Sein schaltete auf Durchzug und hörte nicht hin. Sie glaubte, dass dieser Schwebezustand niemals vorüber gehen würde.

Robert war ihr bereits vor einiger Zeit aufgefallen. Lag es an seiner Haltung, die anders war als die der anderen obdachlosen Trinker, so aufrecht und doch irgendwie geduckt. Seine Augen sahen wissend aus, sein Gesicht war gegerbt von den Jahren auf der Strasse und verlieh ihm Weisheit.

Und im Gesamten unglücklich mit Eltern, Lehrern und einer Welt, die so belanglos vor ihr lag, dass sie sich fragte, warum sie daran teilnehmen sollte,

kam es ihr plötzlich in den Sinn, dass sie sich einen Mann wie Robert als Lehrer gewünscht hätte.

Natürlich hatte sie für seine Qualifikation überhaupt keine Anhaltspunkte, aber sie empfand ihn als gütig und nachsichtig,

und das sprach für ihn, und überhaupt war er recht schnell ihre Rechtfertigung für all die Rebellion, die sie im Innern empfand.

Ihre Mutter war eine Glucke, die ihrem Philosophie-Studium nachtrauerte, das sie nie zu einem vernünftigen Ende gebracht hatte, aber ständig sprach sie davon, als hätte sie das Ei des Kolumbus entdeckt. Das allein war bereits Grund genug, den eigenen Philosophie-Unterricht vollumfassend abzulehnen. Paula wollte vieles oder gar nichts, aber wie ihre Mutter wollte sie auf keinen Fall sein oder werden.

In den nächsten Tagen wurde Robert ein guter Freund für sie. Er hörte ihr zu, und während er das tat, trank er nicht. Am Ende würde sie noch dafür sorgen, dass er clean würde, redete sie sich ein - und kam fortan täglich. Wenn sie schon nicht die eigene Seele retten konnte, dann doch die eines anderen Menschen.

An einem Mittwoch saß er nicht auf der Bank, er war auch an dem darauf folgenden Donnerstag nicht dort und in der ganzen nächsten Woche nicht.

Paula empfand plötzlich mehr Sorge um einen anderen Menschen als um sich selber. Das war neu und galt zuletzt der verstorbenen Oma, die nun schon sieben Jahre nicht mehr in ihrem Leben vertreten war.

Was sollte sie tun? Wo und wie sollte sie ihn suchen? - Sie fragte zunächst einmal die anderen Obdachlosen, aber auch sie hatten keine Ahnung, was mit Robert passiert war.

Internet-Recherche war wohl sinnlos, denn wie sollte ein Obdachloser online gehen. Aber sie las auf der Seite der örtlichen Polizei. Ergebnislos.

Paula hatte einen Menschen gefunden, vor ganz kurzer Zeit, dem sie vertraute - und nun hatte sie ihn bereits wieder verloren. Sie war am Boden zerstört und voller Wut auf die ganze Welt und die gesamte Menschheit.

Auf das nahe Liegende kam sie nach einer Woche: Sie rief in allen Krankenhäusern an.

Beim zehnten Anruf wurde sie fündig. Robert war dort eingeliefert worden.

Paula machte sich auf den Weg zu ihm.

Fortsetzung folgt

Copyright Silvia Gehrmann

Guten Tag, Gruß Silvia

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