Montag, 26. September 2016
26. September 2016 - Kurzgeschichte "Am Rand" (Der Obdachlose) - 4. und letzter Teil
Am Rand
Schon am nächsten Tag hatte Paula ihre Mutter Anna im Schlepptau, um Robert im Krankenhaus zu besuchen. Zwar hatte Anna wenig bis gar keine Berührungspunkte mit Obdachlosen, aber dieser Mann schien trotz seiner Lebensumstände einen positiven Einfluss auf ihre Tochter zu haben. Beinahe spürte sie eine Art von Aufregung, ihn kennen zu lernen.
Neben der lächelnden Paula sah er die ernst dreinblickende Anna zu allererst, und ihm stockte der Atem, er musste nach Luft ringen und fragte sich,
ob dies nun das gefürchtete Delirium tremens war.
Er erkannte sie sofort, obwohl sie natürlich älter geworden war. Das Mädchenhafte hatte sie behalten, ob sie auch das Teuflische in sich noch weiter gezüchtet hatte?
Anna wusste nicht sofort, wer ihr da erschrocken entgegen sah. Zwanzig Jahre auf den Straßen hatten Spuren hinterlassen, die ihn um beinahe das doppelte älter aussehen ließen als diese Obdachlosen-Jahre, die er auf dem Buckel hatte.
Robert blieb jedes Begrüßungswort im Halse stecken. Wie durch einen Schleier sah er die Ereignisse der Vergangenheit vor sich:
Er, der Philosophie-Professor an der hiesigen Universität, diese Frau, seine Studentin ...
Sie hatte ihn gestalkt, sie hatte ihn mit Liebesschwüren verfolgt und damit zunächst einmal seine Ehe in Gefahr gebracht. Doch seine Frau hatte seinen Beteuerungen geglaubt, dass die Studentin Anna nicht seine Geliebte war.
Als alles Werben um den verehrten Professor Anna nicht weiter brachte, ging sie den endgültigen Schritt zu weit:
Sie bezichtigte ihn der Vergewaltigung. - Er kam vor Gericht und bekam dort den sogenannten Freispruch zweiter Klasse verpasst: "... aus Mangel an Beweisen".
Damit begann sein sozialer Abstieg. Nicht sofort, aber nach und nach. Seine Frau wollte an ihn glauben, aber er merkte oft genug, dass es ihr kaum noch gelang. Sein Sohn wandte sich vom Vater ab, und er hatte ihn seither nie wiedergesehen.
Dann erkrankte seine Frau an Krebs. Und nachdem sie gestorben war und er sie in völliger Isolation von seiner gesamten Umwelt allein zu Grabe trug, begann er zu trinken. Er verlor seinen Job an der Universität und alles andere war danach
nur noch eine Frage der Zeit.
Endlich kam auch Anna ihrer Vergangenheit in Form des kranken Obdachlosen auf die Spur. Sie erkannte ihn schließlich an den Augen, die sie einst so geliebt hatte, dass sie darüber mehr als nur einen Fehler begangen und am Ende sogar ein großes Unrecht auf den Weg gebracht hatte.
Robert war der erste, der die Fassung wieder erlangte. Er wollte nicht, dass Paula irgendetwas von dem mitbekam, was ihre Mutter und ihn so dramatisch verband. Sogar ein Lächeln brachte er zustande, als er Paula bat, ihn eine halbe Stunde mit ihrer Mutter allein zu lassen.
"Wir müssen über dich reden", schmunzelte er. Paula verließ das Krankenzimmer.
Zögernd ging Anna näher auf ihn zu und setzte sich schließlich auf den Rand seines Bettes. Zitternd griff sie nach seiner Hand.
"Ich weiß, ich kann nichts wieder gut machen", ihre Stimme vibrierte und war kaum unter ihrer Kontrolle, "aber ich möchte es versuchen. Ich bin nicht mehr die von früher. Und ich habe bereut und war trotzdem zu feige, alles wieder zurecht zu rücken."
Er drückte ihre Hand so fest er konnte. Man traf sich immer zweimal im Leben.
Ende
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Silvia Gehrmann
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