Montag, 23. März 2020

23. März 2020 - Kurzgeschichte: "Ein Virus als persönliche Chance" - 3. und letzter Teil

Kurzgeschichte
3. und letzter Teil

Ein Virus als persönliche Chance?

In der ersten von vier Flaschen Wein an diesem Abend, der bis in die Nacht dauerte, wurde der Frust ertränkt. Sie tranken vorwiegend schweigend, in eigene Gedanken versunken:


Merle

Wie viele Flaschen wir in den vergangenen 15 Jahren geköpft haben, weiß ich gar nicht mehr. Aber irgendwie wurden die gemeinsam geleerten  Flaschen weniger zugunsten der einzeln getrunkenen. Ich mit meinen Freundinnen, er mit seinen Kumpels ... oder auch mit einer aktuellen Freundin. Ich denke mal, nach etwa 7 oder 8 Jahren waren die meisten Gemeinsamkeiten passé und wir fingen an, nebeneinander her zu leben.

Sozusagen: Eine Flasche neben einer anderen. Wir hätten uns also bereits vor Jahren trennen sollen, aber keiner hatte den Mumm für den Absprung. Warum, weiß ich gar nicht.


Wolfram

Wann habe ich angefangen, sie mir schön zu trinken? Nicht, dass ich ihren Anblick nicht ertragen konnte, denn sie ist immer noch eine hübsche Frau. Aber ihr Wesen! Dieses keifende Weib, diese hysterische Furie.


Mit der 2. Flasche Wein kamen die letzten 15 Jahre auf den Tisch. Wolfram meinte, es liefe schon seit bestimmt drei Jahren überhaupt nicht mehr rund.

Merle lachte bitter auf: "Drei Jahre? Das ist ja wohl stark untertrieben. Eher sind es sieben oder acht Jahre."

Ein Mann und eine Frau! Nicht einmal über das gefühlsmäßige Ende ihrer Beziehung konnten sie sich einigen.


Merle

Während ich mich innerlich bereits aus der Ehe verabschiedet hatte, dachte er noch, alles sei in Ordnung. Typisch Mann. Ein Mann merkt erst, dass er am Abgrund steht, wenn er den einen, entscheidenden Schritt zu viel getan hat.


Die dritte Flasche Wein enthielt nicht nur Alkohol, sondern auch eine Prise Entspannung.

"Ich bin unsere furchtbaren Streitereien einfach satt. Wir sind uns über gar nichts mehr einig, wir suchen und finden Fehler. Ist ja auch nicht schwer, bei anderen Fehler zu finden", sagte Wolfram und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Beinahe hätte er mit Merle anstoßen wollen,

aber noch war sie auf einer Distanz zu ihm, die nichts mit körperlicher Ferne an sich hatte, sondern einer seelischen Kapitulation glich. Komm mit nicht zu nah, schienen ihre Blicke zu sagen, dann komm ich nicht ins Schwanken.

Denn diese außergewöhnliche Situation ließ auch ungewöhnliche Gedanken aufkommen: War es denkbar, dass diese Krise

sie wieder zusammen brachte? Beide dachten kurzfristig so, beide hielten es nicht für ausgeschlossen. Immerhin meisterten sie diese Situation einigermaßen menschlich.


Wolfram

Es gibt Momente, in denen ich mir durchaus vorstellen könnte, dass wir alles wieder rückgängig machen, uns nicht scheiden lassen, uns zusammen raufen ... aber diese Momente sind nicht präsent genug, sie nehmen nicht überhand. Jetzt und in dieser Situation erscheint einem vieles möglich, aber wir werden die Bedrohung des Virus vergessen ... und zur Tagesordnung übergehen. Besser ein Ende: aber keines mit Schrecken, sondern eines in Frieden.


Merle

Manchmal kann er richtig charmant sein. Vorübergehend. Besonders dann, wenn er mich nicht mehr Merde, sondern wieder Merle nennt. Früher nannte er mich sogar manchmal mit Kosenamen, die ich gar nicht mehr nieder schreiben will: Sie würden heute einfach nicht seinen Gefühlen entsprechen.


Mit dem ersten Glas der vierten Flasche stieß er endlich mit Merle an, und sie wies ihn nicht zurück.

In dieser Flasche lagen viele gute Erinnerungen an ihre schönsten Zeiten. Die waren gar nicht mal so dünn gesät, sondern hatten einen langen Bestand gehabt.

Wann genau und warum sie vorbei gegangen waren, konnte sie nicht sagen. Sie erinnerten sich nicht, weil es vermutlich schleichend vor sich gegangen war. Am Ende hatte es in einem Krieg sein Finale gefunden,

und den galt es nun, so sahen es plötzlich beide, zu beenden.

Sie würden nicht wieder zusammen finden, und vermutlich würden sie auch niemals Freunde werden.

Vielleicht war es ihr größtes Versäumnis gewesen, keine Freunde zu sein, sondern erst ein Liebes-, dann ein Ehe-Liebes-Paar, danach nur noch ein Ehepaar und schließlich verfeindet bis aufs Schlimmste.

Es fielen viele Worte in dieser Nacht. Nur die wenigsten kann ich in einer Kurzgeschichte unterbringen.  Immerhin haben Merle und Wolfram auch vor mir ihre Geheimnisse.

Aber es gab ein friedvolles Ende ihrer Liebe und Ehe. Sie rückten ihre Couchen zusammen und schliefen Hand in Hand ein.


Ende
Copyright by Silvia Gehrmann


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