Freitag, 20. März 2020

20. März 2020 - Kurzgeschichte: "Ein Virus als persönliche Chance?" - 1. von 3 Teilen

Kurzgeschichte
1. Teil


Ein Virus als persönliche Chance?

Man könnte meinen, die folgende Geschichte kann eigentlich nicht gut ausgehen. Und natürlich wäre auch das Schiefgehen ein möglicher Lauf der Dinge,

aber ich lasse jetzt meine Protagonisten Merle und Wolfram miteinander ihre eigene Story erleben, und dann sehen wir, wie es für sie endet, und auch, ob es am Schluss vielleicht Opfer gibt oder eine Einigung oder ob diese erzwungene Gemeinsamkeit oder eher Zwangs-Gemeinschaft nur die Gräben vertieft.


Merle 

In ein paar Stunden werden die gepackten Kisten abgeholt, und jeder von uns beiden kann sich endlich in ein neues Leben verabschieden.

Dieser Kerl nennt mich nur noch Merde, aber auch ich habe für ihn bereits seit langer Zeit keine freundlichen Worte mehr. Er nervt, egal was er tut oder lässt: Wie er isst, nervt mich, wie er geht, wie er telefoniert ...und wie er weg hört, wenn es schwierig wird.

Und endlich ist das Foto von seiner Mutter in einer seiner Umzugskartons verpackt, und ich muss nicht mehr täglich daran vorbei gehen. Dieser Blick von der Frau - ich hätte ihn mir damals besser anschauen und genauer analysieren sollen. Er guckt heute oft genau so bescheuert wie sie.


Wolfram

Warum habe ich diese furchtbare Frau überhaupt geheiratet? Meine Mutter hatte mich gewarnt, aber ich erinnere mich, dass sie mich eigentlich vor jeder Frau gewarnt hat. Doch in diesem Fall hatte sie so etwas von recht,

und ich bin froh, wenn ich Merde ab gleich nur noch einmal sehen muss: Beim Scheidungstermin.

Endlich fange ich ein neues Leben an, aber vermutlich nehme ich ein paar Albträume über diese Merde mit.


Jeder saß stumm auf einem Karton, und jeder von ihnen guckte in die Richtung, in der kein Augenkontakt mit dem anderen möglich war. Beide warteten nur noch auf den Umzugs-Unternehmer. Der war im Moment der beliebteste Mensch für zwei, die sich im Laufe der Zeit hassen gelernt hatten.

Schade, dass Mama tot ist, dachte Wolfram, sie hätte sich gefreut, dass es endlich zu einer Trennung gekommen war.

Schade, dass seine Mutter nicht mehr lebt, dachte Merle, ich hätte ihr heute ins Gesicht geschleudert: Du kannst deinen Jungen wieder haben!

Doch während beide ihren Gedanken nachhingen, drehte sich die Welt weiter ... fast hätten sie davon kaum etwas mitbekommen.

Aber ein unsichtbarer Gegner schlug ungehört und nicht mit den Sinnen wahrgenommen erbarmungslos zu:


Merle

Fast glaube ich jetzt an eine Verschwörung. An eine, die mich ganz persönlich trifft. Meine eigene Verschwörungs-Theorie ist geboren. Ich sehe ihn da auf einer Kiste sitzen,

obwohl ich ihn weit weg wünsche. Aber genau, weil er so gerne weit fort fährt, trifft mich jetzt der Schlamassel.


Sie, die sich nichts mehr herbei wünschten als die Umzugsleute, hatten gerade die Nachricht bekommen, dass sie für zwei Wochen

in eine gemeinsame Quarantäne müssen. Und die mussten sie natürlich dort absitzen, wo sie sich gerade befanden: In dieser Wohnung. Genau dort und nirgendwo sonst. Anstatt sie für immer zu verlassen, mussten sie bleiben.

Wolfram war schließlich bis vor zwei Tagen geschäftlich in Italien gewesen.

Anstatt Gondel-Träume könnte er nun Alb-Träume bekommen.

Eine Weile beschäftigte Merle das Coronavirus mehr als der ihr gleichgültig bis verhasst gewordene Mann. Warum traf sie das Virus, ohne von ihm befallen worden zu sein - wie sie zuversichtlich dachte?  Warum stand dieses Scheiß-Virus ihren Plänen derart im Weg,

dass es sie nun für 2 Wochen an Wolfram kettete? Welche Macht besaß dieses Virus?

Bis in die kleinste Ecke beherrschte es offenbar die ganze Welt.


Fortsetzung folgt
Copyright Silvia Gehrmann


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